An der Ehrenrettung des durchwachsenen Wettbewerbs der Berlinale war in diesem Jahr ein heimisches Stück beteiligt. Genauer gesagt eines, das sich nur wenige Meter von den Leinwänden des Festivals abspielt. Warum „Victoria“ tatsächlich eine Hoffnung für das deutsche Kino und dessen Platz auf der internationalen Bühne ist, erläutert Timo in seiner Kritik.
Ein großer Streich aus deutschen Gefilden
„Dazu sage ich nichts, das musst du dir selber ansehen“ schrieb mir ein Berlinale-Mitstreiter nach der Weltpremiere des Films. Das kann ja erstmal alles bedeuten. Einige Tage darauf wurde mir klar, warum der Kollege das verschwieg, was sich als Begeisterung herausstellte. Nach der ersten Aufführung des Films hatte sich das, was in der Marketing-Kampage zu „Victoria“ später Erwähnung finden sollte, noch nicht herumgesprochen. Der Film, der mit 140 Minuten ohnehin eine stolze Laufzeit aufweist, ist in einem (sehr) langen, ununterbrochenen Take gedreht worden. Eine beeindruckende Leistung, die in der Geschichte dieser Kunstform bisher selten erbracht wurde (eines der wenigen Beispiele: Aleksandr Sokurovs „Russian Ark“).
Eröffnet wird der Ausflug durchs nächtliche Berlin in einer verrauchten Disko zu dumpfen Technobeats. Die junge Spanierin Victoria (Laia Costa), ein bezauberndes Mädchen, das wie so viele junge Erwachsene Halt in der Hauptstadt macht, verbringt die Nacht vor ihrem Arbeitstag mit ausgelassenem Feiern. Auf dem Heimweg begegnet sie einer Gruppe junger Männer, bestehend aus dem Anführer Sonne (Frederick Lau), dem etwas instabilen Boxer (Franz Rogowski), Fuß (Max Mauff) und Blinker (Burak Yigit). Die Jungs becircen die Dame und überreden sie kurzerhand, den Rest der Nacht mit ihnen zu verbringen. Mit einem beinahe romantischen Zusammensein auf einem Berliner Dach beginnt die ultimativ haarsträubende Reise.
Es ist ein außerordentlicher Moment für einen Filmfreund, wenn man im Kino sitzt und es nach gut 20 Minuten zu dämmern beginnt, dass es sich bei „Victoria“ um ein waghalsiges und hochambitioniertes Werk handelt. In einem Wettbewerb, der bis auf einzelne Beiträge wie „45 Years“ und „El bóton de nácar“ eher enttäuschend ausfiel, ist es angenehm überraschend, dass der innovativste Bewerber der Berliner Filmfestspiele ausgerechnet aus Deutschland stammt. Die dramatische und erzählerische Wucht eines langen Takes ist der Kinowelt nicht fremd. Zahlreiche Regisseure von Brian De Palma über Alfred Hitchcock bis zu Alfonso Cuarón sind sich seines Effekts bewusst. Der deutsche Filmemacher und Schauspieler Sebastian Schipper treibt das Konzept auf die Spitze und lässt das Geschehen von der tiefen Nacht bis zum Morgengrauen in einem ununterbrochenen Fluss aufs Publikum los.
„Victoria“ weist noch weitere Parallelen zum großen, populären Kino auf. Leider stehen nicht alle dieser Parallelen unter einem guten Stern. Während sich der Film von einem Drama immer mehr zu einem Actionfilm wandelt, müssen seine Figuren, ihre Motivationen und vor allem der realistische Aspekt der Story in den Hintergrund treten. Was anfangs wie eine interessante Auseinandersetzung mit dem multikulturellen Leben in der deutschen Hauptstadt beginnt, endet als frenetische Verfolgungsjagd, wie man sie von amerikanischen oder britischen Kulturexporten erwartet. Für den Freund des gehobenen Arthouse-Kinos mag dies eine Enttäuschung darstellen. Für das gemeine Kinopublikum könnte (sollte) diese Angleichung an eine typisch undeutsche Dramaturgie sich jedoch als Magnet erweisen. Fakt ist, dass das Projekt von Sebastian Schipper ein couragierter, aufregender Film ist, der hoffentlich auch außerhalb der Bundesgrenze die verdiente Aufmerksamkeit bekommen wird.
Zur Blu-Ray:
Vor dem Heimkino-Start von „Victoria“ haben wir das Glück gehabt, ein Pressemuster in die Finger zu bekommen. Was die Blu-Ray draufhat wollen wir euch noch kurz verraten, die Filmbesprechung ist ja schon zur Zeit der Berlinale entstanden. „Victoria“ kommt am 20. November 2015 auf DVD und Blu-Ray in die deutschen Filmregale.
Das Bild:
Gegen das Full-HD-Bild mit einem Bildverhältnis von 2,40:1 gibt es keine Klagen. Auch das Menü ist wirklich ansprechend und obendrein sehr übersichtlich gestaltet.
Der Ton:
Die Blu-Ray von „Victoria“ kommt gleich mit vier verschiedenen Audio-Versionen daher. Neben der „Puren original Version (ohne Untertitel)“ kann man zudem zwischen der deutschen Kinofassung mit deutscher Teiluntertitelung, einer Hörfilmfassung für Blinde und Sehbehinderte und einem mitlaufenden Audiokommentar von Regisseur Sebastian Schipper wählen. Auch bei den Untertiteln gibt es vier Varianten: Englische Teiluntertitel für deutschsprachige Dialogszenen, ein englische Komplettuntertitelung sowie eine Kombination aus deutschen und englischen Untetiteln. Darüber hinaus sind auch deutsche Lauftexte für Hörgeschädigte mit dabei. Ein wirklich ausführliches Paket.
Die Extras:
Auch bei der Sonderausstattung lassen sich Senator und Universum Film keineswegs lumpen. Hier findet man neben den schon erwähnten Audiokommentar auch einen Kameratest und Castingszenen sowie ein Interview mit Sebastian Schipper und Frederick Lau a.k.a. Sonne. Auch ein ausführliches Interview mit der INTRO befindet sich auf der Scheibe. Im Stile des Films wurde es als One-Take mit kurzen Szenen aus „Victoria“ gedreht und dauert insgesamt 1 Stunde 15 Minuten. Die Interviewten sind die beiden Hauptdarsteller Laia Costa und Frederick Lau sowie der Regisseur. Zu guter Letzt sind der Kinotrailer und Filmtipps als Bonus vorhanden.
Das Fazit:
Wie schon gesagt: Das Paket stimmt. Nicht nur besticht der Film durch Qualität, auch die Blu-Ray von „Victoria“ erfreut die Käufer durch ein üppiges Angebot. Ein toller deutscher Experimental-Film als 140-minütige Planszene mit einem absolut soliden Heimkino-Release. Cineasten, die eines der deutschen Filmhighlights von 2015 im Filmregal stehen haben möchte, kann mit der Blu-Ray von „Victoria“ nichts falsch machen.
Victoria
Drama, Action, Experiment
Regie: Sebastian Schipper
Buch: Sebastian Schipper, Olivia Neergard-Holm, Eike Frederik Schulz
Darsteller: Laia Costa, Frederick Lau, Franz Rogowski, Burak Yigit, Max Mauff, André Hennicke
Kinostart DE: 11.06.2015
Kinostart US: 09.10.2015 (limited)
Heimkinostart DE: 20.11.2015
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