Ach ja, das Filmfest Hamburg … es macht einfach immer wieder Spaß. Auch die 26. Auflage (27. September bis 6. Oktober) hat nicht enttäuscht. Neben der lockeren Atmosphäre und guten Organisation glänzte das FFHH 2018 durch ein tierisch gutes Aufgebot: Weltbekannte Regisseure waren mit ihren aktuellen Filmen vertreten, darunter Alfonso Cuarón, Paolo Sorrentino, Damien Chazelle und Lars von Trier. Oftmals handelte es sich sogar um Deutschlandpremieren.
Insgesamt 20 Filme habe ich während des Filmfests gesichtet und mein Fazit fällt äußerst positiv aus: Nur wenige Streifen haben mich enttäuscht, den Rest ordne ich in die Bereiche „sehenswert“ bis „fantastisch“ ein. Welche Filme mir am besten gefallen haben und warum, möchte ich euch – mit reichlich Verspätung – in einem kleinen Round-up meiner Top 5 verraten.
Roma (2018)
Ergreifend, persönlich und wunderschön: ROMA hat mich von den Socken gehauen. Dabei zog es den zweifachen Oscar-Preisträger Alfonso Cuarón in die Heimat und die Zeit seiner Kindheit. Der Film spielt in den früher 1970er-Jahren in Mexiko-Stadt und betrachtet die Geschichte einer mittelständischen Familie und ihrem Hausmädchen Cleo (Yalitza Aparicio) mixtekischer Herkunft.
Letztere kümmert sich liebevoll um die Kinder des Hauses, während Mutter Sofìa (Marina de Tavira) und Vater Antonio (Fernando Grediaga) kurz vor der Trennung stehen. Zunächst im Hintergrund rücken die politischen Unruhen zwischen der brutalen Regierung und den linken Oppositionellen immer mehr in den Fokus und spiegeln sich auch im Alltag der Familie wieder. Auch Cleos Leben durch ihre Liaison mit dem jungen Martial-Arts-Enthusiasten Fermín.
Für ROMA entschied sich Cuarón, der neben der Regie und dem Drehbuch auch für die Kinematografie verantwortlich war, in Schwarz-Weiß zu drehen. Das Ergebnis ist bildgewaltig, gefühlvoll bis hin zu aufregend – die astreine 4K-Projektion inklusive Dolby Vision im CinemaxX-Dammtor hat ihr übriges zum Erlebnis beigesteuert. Dabei merkt man ROMA seine 135 Minuten Laufzeit nie an, der Film hält dank aufwendiger Set-Pieces und einer interessanten, persönlichen Story stets seine Spannung.
Selten habe ich im Kino einen Kloß im Hals, bei ROMA stand ich aber mehrere Male kurz im Wasser. Ein wahres Meisterwerk, das bereits im Vorfeld den Goldenen Löwen bei den Filmfestspielen in Venedig 2018 einheimste und seit Mitte Dezember 2018 beim Streaming-Dienst Netflix als Original läuft. Auch bei der Oscar-Verleihung hat ROMA vollkommen zurecht abgeräumt, von seinen zehn Nominierungen (unter anderem für Bester Film) sahnte das Drama drei Goldjungen ab (Regie, Kamera und ausländischer Film). Volle Punktzahl – bravo.
Regie: Alfonso Cuarón
Drehbuch: Alfonso Cuarón
Darsteller: Yalitza Aparicio, Marina de Tavira, Diego Cortina Autrey, Carlos Peralta, Marco Graf
Sprache: Spanish
Deutschlandpremiere: 30. September 2018 (FFHH18) | Netflix-Premiere DE: 15. Dezember 2018
The House That Jack Built (2018)
Schon vor dem Erscheinen von Lars von Triers neuem Werk THE HOUSE THAT JACK BUILT machte sich eine kleine Welle der Entrüstung breit – das hat mittlerweile fast Tradition. Der Grund: Im Film sieht man einen Gewaltakt am sekundären Geschlechtsmerkmal einer Frau. Zugegeben: Die Szene hat es in sich, obwohl die Gewalt nicht exzessiv gefeiert wird und die Kamera nicht allzu lange darauf zielt. Doch eine Indizierung oder Wegschneiden der Szene sollte sowas nicht nach sich ziehen – und hat es auch nicht. Das hat sicher auch den Vertreter vom Verleiher Concorde gefreut, der hat vor der Verführung ausgiebig darüber und weitere Details erzählt (zum Unmut vieler Zuschauer).
Aber mal zum Film, der deutlich mehr zu bieten hat als bloße Schockwerte: THE HOUSE THAT JACK BUILT erzählt die Geschichte des Psychopathen, Serienmörders und Ingenieurs Jack (Matt Dillon). Unter dem Pseudonym „Mr. Sophisticated“, was so viel wie „Herr Intellektuell“ bedeutet, hat er über die Jahre rund 60 Morde begangen, die er allesamt als Teile eines großen Kunstwerks sieht. Nebenbei versucht sich Jack als Architekt und strebt wenig erfolgreich den Traum eines selbst erbauten Hauses an. Seine wichtigsten und gelungensten Morde erzählt er dem mysteriösen Mann Verge, gespielt von Bruno Ganz, der leider im Frühjahr 2019 verstorben ist.
Während seiner Rekapitulationen offenbaren sich zunehmend Jacks Größenwahn, Zwangsneurosen und Paranoia. Die haben ihm gleichermaßen bei der Ausübung und Vertuschung seiner Übeltaten im Wege standen und geholfen haben. Ein glücklicher Zufall verführt ihn gar zur Annahme auserwählt zu sein. Man merkt: Er ist ein echter Flächensympath.
Gegen Ende nimmt der Film noch einen interessanten Ausreißer: Darin nimmt sich enfant terrible Lars von Trier in Form von Bruno Ganz‘ Charakter gewissermaßen selbst auf die Schippe. THE HOUSE THAT JACK BUILT ist klasse inszeniert, gespielt, gefilmt und bietet eine gekonnte Auseinandersetzung mit den Themen Psychopathie und Misanthropie. Für zart Besaitete ist der Film aber sicherlich nichts.
Regie: Lars von Trier
Drehbuch: Jenle Hallund, Lars von Trier
Darsteller: Matt Dillon, Bruno Ganz, Uma Thurman
Sprache: Englisch
Deutschlandpremiere: 29. September 2018 (FFHH18) | Kinostart DE: 29. November 2018
The Favourite (2018)
The Favourite – Intrigen und Irrsinn
Normalerweise gehen mir die eingedeutschten Filmtitel ziemlich auf die Nüsse, aber bei THE FAVOURITE mache ich mal eine Ausnahme: Der Zusatz „Intrigen und Irrsinn“ trifft den Nagel nämlich auf den Kopf. Die Story von THE FAVOURITE siedelt sich im England des 18. Jahrhunderts an, Spielplatz ist der Königshof während des Britisch-Französischen Kolonialkrieges und im Mittelpunkt steht das weibliche Dreigespann aus Olivia Coleman, Rachel Weisz und Emma Stone.
Königin Anne (Coleman) sieht sich schwierigen Entscheidungen gegenüber, ihre sich zunehmend verschlechternde Krankheit treibt sie aber in den Wahnsinn und macht sie anfällig für Manipulationsversuche. Ihre persönliche Beraterin und Freundin Herzogin Sarah Churchill (Weisz) kümmert sich um sie und übernimmt das Heft für sie in die Hand. Doch plötzlich tritt Sarahs jüngere Cousine Abigail (Stone) auf den Plan: Anfänglich als Dienstmädchen gewinnt sie durch geschickte Manipulation die Gunst der Regentin, Sarah rückt dabei immer mehr in den Hintergrund.
Das intrigenreiche Spiel nimmt fahrt auf: Sarah und Abigail gehen einen erbitterten Kampf um den Platz an der Seite der Königin, der für reichlich Irrsinn sorgt (ich meinte doch, dass der deutsche Zusatztitel passt).
Mit THE FAVOURITE liefert Regisseur Yorgos Lanthimos sein erstes Historiendrama ab, das sich in opulenten Set-Pieces und Kostümen ergießt. Und die Besetzung trieft nur so von Frauenpower und absoluter Klasse: Die Chemie zwischen den drei Protagonistinnen hat von der ersten Szene an gestimmt, sie haben den Film durchweg dominiert und im Trio getragen.
Verdanken darf man das zunächst den drei Darstellerinnen, die auf allerhöchstem Niveau abgeliefert haben, dem Regisseur und natürlich dem fantastischen Drehbuch von Deborah Davis und Tony McNamara – voller Witz, schwarzem Humor und Satire. Bei der diesjährigen Oscarverleihung waren Coleman (Hauptdarstellerin), Weisz und Stone (beide Nebendarstellerin) allesamt aufgrund ihrer Leistungen nominiert, Coleman hat die Trophäe schließlich gewonnen. Aber ganz im Ernst: Alle drei hätten die Auszeichnung verdient gehabt, sogar geteilt als Hauptdarsteller-Trio.
Noch ein Wort zu Lanthimos, der ebenfalls als Bester Regisseur nominiert war: Nachdem mir THE LOBSTER sehr gefallen hat und THE KILLING OF A SACRED DEER beim ersten Anschauen nicht bei mir zündete (soll durch wiederholte Sichtungen besser werden), hat mich THE FAVOURITE vollends überzeugt. Gründe dafür sind neben den tollen schauspielerischen Darbietungen vor allem Look, Kamera und die deutlich lustigere Inszenierung der Geschichte. Für mich gehört THE FAVOURITE, der vermutlich komischste Lanthimos, zu den besten Streifen auf dem FFHH, des Jahres 2018 und der Filmographie des griechischen Regisseurs.
Regie: Yorgos Lanthimos
Drehbuch: Deborah Davis, Tony McNamara
Darsteller: Olivia Colman, Rachel Weisz, Emma Delves
Sprache: Englisch
Deutschlandpremiere: 29. September 2018 (FFHH18) | Kinostart DE: 3. Januar 2019
Mirai no Mirai (2018)
Mirai – Das Mädchen aus der Zukunft
Als großer Fan der Anime-Filme von Studio Ghibli habe ich mich ungemein auf MIRAI NO MIRAI gefreut … und wurde nicht enttäuscht: Zwar hat legendäre Anime-Schmiede von Hayao Miyazaki, Isao Takahata, Toshio Suzuki und Yasuyoshi Tokuma den Film nicht produziert, Animationsstil und Erzählung waren aber sicherlich massiv davon inspiriert. Das dürfte auch daran liegen, dass einige ehemalige Mitarbeiter des Studios beteiligt waren.
In MIRAI NO MIRAI von Mamoru Hosoda (Regie und Drehbuch) geht es um den vierjährigen Kun, der sich bis dato über die Vorzüge des Einzelkinddaseins freuen durfte. Alles ändert sich jedoch mit der Ankunft seiner kleinen Schwester, der Titelfigur Mirai: Auf einmal stellt Kun nicht mehr den Mittelpunkt seiner Eltern dar, Eifersucht und das Sehnen nach Aufmerksamkeit bringen ihn dazu, sich schmollend vom Rest der Familie abzukapseln.
Eines Tages entdeckt er im Garten ein magisch-mysteriöses Portal: Wenn er hindurch tritt, wird er durch die Zeit geschickt und trifft so auf seine Mutter im Mädchenalter, seinen Urgroßvater als jungen Mann und auf Mirai als Teenagerin. Seine Begegnungen lassen ihn bald erkennen, dass er nicht das Zentrum der Existenz darstellt.
Filmemacher Hosoda erreicht zwar nicht ganz die Sphären der Ghibli-Legenden, insbesondere Miyazaki und den verstorbenen Takahata, seine Werke haben aber Hand und Fuß und besitzen den gewissen Charme. Hosoda ist bekannt für seine persönlichen, familienbezogenen Geschichten: In seinen bisherigen Filmen hat er die Themen Mutter- und Vaterschaft, Jugend und Familie behandelt, MIRAI NO MIRAI setzt sich nun mit der komplizierten Bruder-Schwester-Beziehung auseinander.
Neben den ausgezeichneten Sprechern und dem klassischen, wunderschönen Animationsstil sorgt die niedliche Erzählung für viel Herzlichkeit und entlässt den Zuschauer mit einer gewissen Wärme sowie dem einen oder anderen Tränchen. Übrigens ist MIRAI NO MIRAI der erste japanische Nicht-Ghibli-Animefilm, der für den Oscar nominiert wurde.
Regie: Mamoru Hosoda
Drehbuch: Mamoru Hosoda
Spracher: Haru Kuroki, Moka Kamishiraishi, Gen Hoshino
Sprache: Japanisch
Deutschlandpremiere: 5. Oktober 2018 (FFHH18) | Kinostart DE: 28. Mai 2019
Dogman (2018)
Jeder kennt ihn: den Highschool-Bully. Damit meine ich keinen VW-Bus, sondern das große Arschloch aus der Schule, das immer auf den schwächeren Mitschülern (oder einem selbst) rumgehackt hat. Was wäre, wenn diese Dynamik bis in das Erwachsenenalter fortwährt? Genau mit der Thematik befasst sich DOGMAN von Regisseur Matteo Garrone und einem Septett aus Drehbuchautoren. In der Hauptrolle des Marcello spielt Marcello Fonte, der für seine Leistung in DOGMAN die Goldene Palme bei den Filmfestspielen in Cannes 2018 gewann. Mit seiner Tochter Alida (Alida Baldari Calabria) lebt Marcello in einer kleinen süditalienischen Küstenstadt, sein Beruf: Hundefriseur. Deshalb wird er von den Bewohnern meist nur „Dogman“ genannt, seine Nachbarn schätzen den sanftmütigen Marcello, der nebenbei in kleinem Rahmen Drogen vertickt. Sein Leben nimmt eine harte Kurve, als der tyrannische Vollstarke und Ex-Boxer Simone (Edoardo Pesce) ihn in seine kriminellen Machenschaften hineinzwingt und er das Ansehen im Ort verliert. Jetzt will Marcello alles dafür tun, um sich zu gegen Simone zu wehren, Wiedergutmachung zu betreiben und seiner Tochter ein gutes Vorbild zu bieten.
Besonders auffällig bei DOGMAN ist das hervorragende Zusammenspiel zwischen Marcello Fonte und seinem Unterdrücker Edoardo Pesce, der dem Hauptdarsteller zufolge ein unheimlich liebenswerter Typ sein soll. Deshalb lässt sich auch die Behauptung aufstellen, dass der Fontes Erfolg in Cannes zum Teil auf die Kappe von Pesce geht. DOGMAN liefert über das gute Schauspiel hinaus jede Menge schöne Schauwerte und eine gute Erzählstruktur. Die ruhigeren, melancholischeren Sequenzen tun dem Pacing keinen Abbruch, während der Sicht kommt niemals Langeweile auf. Und das Ende ist – ohne zu viel zu verraten – einfach sehr befriedigend. Eine brillante Vorstellung lieferte auch der legendäre Moderator des öffentlichen Screenings während des Filmfests, der einmal mehr die Barrieren der Nationalität und Sprache durchbrach.
Regie: Matteo Garrone
Drehbuch: Ugo Chiti, Matteo Garrone, Massimo Gaudioso, Marco Perfetti, Damiano D’Innocenzo, Fabio D’Innocenzo, Giulio Troli
Darsteller: Marcello Fonte, Edoardo Pesce, Adamo Dionisi
Sprache: Italienisch
Deutschlandpremiere: 28. September 2018 (FFHH18) | Kinostart DE: 18. Oktober 2018
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Die Rechte an den verwendeten Bildern zu „Dogman“ liegen bei Alamode Film
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