Mit „Synecdoche, New York“ hat Charlie Kaufman einen der besten Filme des neuen Jahrtausends abgeliefert. Logische Konsequenz, dass sein nächstes Projekt nicht die erforderlichen Mittel auftreiben konnte und per Kickstarter ins Leben gerufen werden musste. Welches Studio möchte schließlich einen Regisseur/Autor bezahlen, der bisher nur ein höllisch kompliziertes und gleichzeitig tief berührendes Opus über Tod, Kunst und Vergänglichkeit auf seinem (Regie-)Kerbholz hat. Vielleicht überlegen die Geldgeber der Traumfabrik es sich beim nächsten Mal doppelt, denn „Anomalisa“ ist ein komplett anderes Tier. Kaufmans Pinselstrich ist zwar deutlich zu erkennen, aber Methodik und Maßstab des Films unterscheiden sich deutlich vom Vorgänger. Und das liegt nicht nur an den Puppen, die hier als Akteure auftreten.
Menschlichkeit als Puppenspiel
Es gibt sowohl Parallelen als auch Unterschiede zwischen „Anomalisa“ und den vorherigen Arbeiten von Charlie Kaufman, darunter die ausgezeichneten „Being John Malkovich“ und „Eternal Sunshine of the Spotless Mind“. Ins Auge sticht unmittelbar die Tatsache, dass im Film keine Menschen, sondern nur Puppen zu sehen sind. Dies mag abschreckend wirken, zumindest für alle, die Puppen noch immer mit Kinderprogramm assoziieren. Eine Entwarnung ist angebracht, es wird geflucht, geraucht und getrunken, und das nicht zu knapp. Kaufman lässt kaum eine Gelegenheit aus, um das Verhalten seiner Protagonisten auf eine menschliche Ebene zu heben (oder zu senken). Viele solcher Details bevölkern den Film und nehmen beispielsweise die Form eines unnötig scheinenden Toilettenbesuchs oder einiger wohlbekannter alltäglicher Ärgernisse an.
Die zweite mögliche Sorge ist die, dass man ohne menschliche Mimik und Gestik keine emotionale Verbindung zum Zuschauer aufbauen kann. Ein Zitat aus einer Kritik, das im Trailer verwendet wird, besagt „It doesn’t star a single human!“. Das mag zwar in dem Sinne stimmen, dass der Film mit keinem großen Gesicht beworben wird, es tauchen jedoch sehr wohl Menschen auf. Namentlich David Thewlis und Jennifer Jason Leigh. Beide leisten eine unglaubliche Arbeit. Thewlis lässt aus jeder Silbe seines Hauptcharakters Michael Stone Schwermut und Niedergeschlagenheit tropfen. Leigh schmeichelt dem Ohr wie zuletzt Scarlett Johansson in „Her“. Es ist mir ein Rätsel, wie diese beiden sehr attraktiven Schauspielerinnen es schaffen, in A-Capella-Rollen noch bezaubernder zu wirken.
Durch die mehr oder weniger intime Körperlichkeit der Puppen und die Organe von Leigh und Thewlis hat Charlie Kaufman also die Kraft, erneut in die Seelen und Herzen seines Publikums zu steigen. Mit dieser Kraft erzählt er eine, für seine Verhältnisse, simple Geschichte über einen Mann und eine Frau. Mit seinen exzellenten Fähigkeiten im Skript-Bereich, für die er bereits mit einem Oscar gekrönt wurde, treibt er nicht nur die Romanze zwischen seinem Paar voran, er offenbart auch große Teile von Michaels Seelenleben. Michael Stone ist womöglich der rundeste und interessanteste Charakter, der je in Form einer Puppe über die Leinwand gehuscht ist.
Es geht um einen Mann und seine Frauen. Einen Mann und sein Leben. Nicht zuletzt um einen Mann und sich selbst. „Anomalisa“ ist eine Charakterstudie eines Menschen, der unter psychologischen Defiziten leidet. Und es ist eine Untersuchung des Effekts dieser Defizite auf sein Umfeld und seine romantischen Partner. Er kommt weniger groß und komplex daher als „Synechdoche, New York“, hat eine andere Form, ein anderes Ziel. Doch es handelt sich unmissverständlich um einen Film von Charlie Kaufman. Man sieht es in seinem trockenen aber liebenswerten Humor. Oder in einer schrägen, bedeutungsschwangeren Traumsequenz. Vor allem aber in der Tatsache, dass „Anomalisa“ ein grenzenlos herzlicher Film ist, der genau wie das Leben gleichzeitig ver- und entzaubert.
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9,5/10
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Anomalisa (2015)
Drama, Komödie
Regie: Charlie Kaufman, Duke Johnson
Buch: Charlie Kaufman
Darsteller: David Thewlis, Jennifer Jason Leigh, Tom Noonan
Kinostart DE: 21.01.2016
Kinostart US: Januar 2016
Heimkinostart DE: –
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