Vor genau 10 Jahren erschien ein Film, der für mich die Spitze des amerikanischen Indie-Kinos des Milleniums darstellt und außerdem einen festen Platz in meinem persönlichen Olymp der Science-Fiction-Filme besetzt. „Primer“ ist der Inbegriff des unabhängigen Kinos. Mit einer brillanten Idee, einem Budget von happigen 7000$ und beinahe 0 Ressourcen machte sich der Mathematiker Shane Carruth daran, einen monumentalen Zeitreise-Film zu produzieren. Neben einer der Hauptrollen übernahm er in seinem Leidenschaftsprojekt die Regie, das Drehbuch, die Produktion, das Sounddesign, den Schnitt und natürlich auch den Vertrieb. Wer mit dem Film nicht vertraut ist: Es geht um zwei Wissenschaftler, die durch Zufall eine Maschine bauen, mit der sie einige Stunden in der Zeit zurückgehen können. Durch das Interagieren verschiedener Versionen der Wissenschaftler und eine Reihe von Paradoxen entwickelt sich der Film zu einem chaotischen und fast undurchdringlichen Puzzle.
Warum leite ich eine Kritik zum brandneuen Sci-Fi-Streifen „Coherence“ mit nostalgischen Gedanken zu „Primer“ ein? Nachdem Carruth sich nach seinem Debüt einige Jahre zurückzog und mit „Upstream Color“ (Meiner Nummer 1 aus 2013) in eine andere Richtung ging, erreicht uns 10 Jahre nach „Primer“ endlich ein Film, der dem hochkomplizierten Zeit-Wirrwarr das Wasser reichen kann. Mit der Behauptung, dass „Coherence“ mit Quantenphysik das macht, was „Primer“ mit Zeit gemacht hat, schickt James Ward Byrkit (ebenfalls Langfilm-Debütant) ein sehr ambitioniertes Statement voraus.
Ähnlich wie „Primer“ beginnt „Coherence“ reichlich simpel. Acht Freunde treffen sich zu einem gemeinsamen Dinner. Ihre Verabredung wird im wahrsten Sinne des Wortes überschattet, denn an besagtem Abend stattet ein Komet der Erde einen Besuch ab. Kurz nachdem sich die Gruppe über die rätselhaften Vorkommnisse des Tunguska-Ereignisses unterhält, fängt auch ihre Umgebung an, sich auf unerklärliche Weise zu verändern. Das plötzliche Zerbrechen von Handy-Bildschirmen ist nur der erste Schritt in einer Story, die die physikalische Realität gründlich auf den Kopf stellt.
Byrkit baut seinen Film weniger als Thriller auf, sondern vielmehr als filmisches Gedankenexperiment. Als Grundlage der Verstrickungen seines Films nutzt er populäre Theorien der Quantenphysik, an der seine Charaktere und seine Zuschauer sich den Kopf zerbrechen. Dies verleiht dem Film eine besondere Originalität und platziert „Coherence“ einige Nasenlängen vor anderen Genre-Kollegen, die sich mit ausschließlich fiktiven Szenarien auseinandersetzen.
Mit ähnlich limitierten Ressourcen wie einst Shane Carruth inszeniert James Ward Byrkit seinen Film als Kammerspiel, das sich auf einen einzigen Schauplatz beschränkt. Die physikalischen Anomalien, die vom Kometen verursacht werden, benutzt er dabei nicht bloß als Treibstoff für die allmähliche Eskalation, sondern auch als Stoff für ethische und existenzielle Gedankenvorlagen, die von den acht Charakteren diskutiert werden und dem Film ein unerwartetes Maß an Tiefe und Qualität geben.
Obwohl die Verwandtschaft zu „Primer“ deutlich ist, mutiert der Film nicht zu einer Imitation und geht seinen eigenen Weg. Er mag den Kopf seiner Zuschauer zwar durch konstante Logik-Spielereien zum Rauchen bringen, allerdings beantwortet am Ende die meisten Fragen und ist um Einiges zugänglicher und nachvollziehbarer als sein offensichtliches Vorbild. Natürlich ist das kein Minuspunkt, aber anders als „Primer“ dürfte „Coherence“ keine Diagramme oder akademische Arbeiten über seine verschachtelte Struktur inspirieren.
Nichtsdestotrotz ist „Coherence“ der stärkste Eintrag im „Mindfuck“-Genre, der in den letzten Jahren die filmische Bühne betreten hat. Mit einem brillanten Drehbuch und einer frischen Inszenierung etabliert James Ward Byrkit sich mit seinem ersten Spielfilm als ein spannendes Talent, das sich passgenau in die Nische zwischen Mike Cahills „Another Earth“ und Shane Carruths „Primer“ einreiht. Ein faszinierendes Stück, das ein Mal mehr beweist, dass sich auch mit bescheidenen Mitteln ein spannender und vor allem intelligenter Film drehen lässt.
9/10
Zur Blu-Ray:
Das Blu-Ray-Release der Indie-Perle werde ich im Folgenden besprechen. Wie immer gehe ich drei Eckpfeiler einer Heimkino-Version nacheinander durch: Bild, Ton und Extras. Am 27. März 2015 findet der Film nun endlich seinen Weg in die deutschen Filmregale.
Das Bild
Coherence kann mit einem starken Bild im originalen Kinobildformat von 2,35:1 mit 1080p und 24 Bildern pro Sekunde überzeugen. Selbst mit einem Beamer auf einer großen Leinwand kann man keine Mängel feststellen. Bei der Bildqualität fällt ab und an jedoch das geringe Budget der Produktion auf, da hier keine IMAX-Standards erreicht werden konnten und viele Bereiche – vermutlich absichtlich – unterbelichtet erscheinen.
Nichtsdestotrotz passt dieser Look dem Film ganz fantastisch und hat eine ähnlich verrückende Wirkung wie die abgebildeten Geschehnisse selbst. Es entsteht ein stetiger Fokuswechsel, bei dem der Zuschauer nicht sofort genau weiß, was eigentlich Phase ist.
Der Ton:
Auch im Bereich der Abmischung gibt es nichts zu meckern. Im Vergleich zu manch anderem Indie-Projekt sind die Dialoge stets verständlich und niemals durch unnötig laute Musik oder Soundeffekte beeinträchtigt. Auch die dezente, Spannung erzeugende Filmmusik von Kristin Øhrn Dyrud kommt voll zur Geltung. Zu empfehlen ist wie fast immer eine ausreichend präparierte 7.1- oder 5.1-Surround-Soundanlage, um in den vollen Ton-Genuss zu kommen. Für diejenigen, die nicht allzu bewandert in der englischen Sprache sind, gibt es zum einen die Option Untertitel in verschiedenen Varianten mitlaufen zu lassen oder den Film mit der deutschen Tonspur zu „genießen“. Beide Versionen sind im brillantem DTS HD Master Audio. Als absoluter OV-Ritter rate ich jedoch „Coherence“ in der Originalsprache zu schauen, damit die wirklich guten Leistungen des Darsteller-Oktetts nachvollzogen werden können.
Die Extras:
Die Standardversion der Blu-Ray kann leider nicht mit interessanten Extras aufwarten. Einzig eine etwas größere Handvoll Trailer („Coherence“, „Es ist schwer, ein Gott zu sein“, „La Bête – Die Bestie“, „Possession“, „El Topo“, „Der heilige Berg“ und „Gandu“) ist hier zu finden. Die Blu-Ray kann jedoch mit einem „analogen Extra“, das ich immer wieder zu schätzen weiß, überzeugen: Ein Wendecover, mit dem man die hässliche FSK-Angabe auf dem Frontcover verschwinden lassen kann. Sollte meiner Meinung immer dabei sein.
Die jeweiligen Special Editions weisen hingegen einige sehens- bzw. hörenswerte Bonus-Features auf. Dazu gehören Testaufnahmen mit oder ohne Kommentar des Regisseurs, Interviews mit drei verschiedenen Darstellern, Trailer und Teaser sowie Behind the Scenes-Aufnahmen und ein Audiokommentar zum Film. Die Special Editions bestehen zudem aus zwei Disks – DVD oder Blu-Ray plus CD mit dem Soundtrack.
Das Fazit
Um es kurz zu fassen: Absolute Kaufempfehlung. Jedoch nur für diejenigen, die nicht immer das übliche Hollywood-Fastfood zu sich nehmen wollen, sondern sich auch mal ein bisschen „mindfucken“ lassen wollen. Im Gegensatz zu den irgendwie oft gesehenen und wenig innovierten Blockbustern, bietet Coherence dem Zuschauer ein paar Fragen und Gedankenspiele zu den Themen Ethik und allgemeiner Existentialismus. Auch die besprochenen quantenphysischen Theorien laden dazu ein, sich mit dem Cast den Kopf zu zerbrechen. Zwar ist dieser Streifen nicht derart theoretisch valide und Dissertations-würdig wie der Star unter den Mindfucks „Primer“ – ich hab mich zumindest nicht so schrecklich dumm gefühlt. Dennoch weiß dieser Film absolut zu überzeugen und bekommt daher auch mein Gütesiegel aufgedrückt.
Coherence
Sci-Fi, Thriller
Regie: James Ward Byrkit
Buch: James Ward Byrkit (Drehbuch), James Ward Byrkit, Alex Manugian (Story)
Darsteller: Emily Baldoni, Maury Sterling, Nicholas Brendon, Elizabeth Gracen, Alex Manugian
Kinostart DE: 06.11.2014
Kinostart US: 20.06.2014 (limited release)
Heimkinostart DE: 27.03.2015
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Hatte ja nach der Wertung hier zum Film überlegt, „The Voices“ eine Sichtung zu schenken, aufgrund der Rezeption von „Blue Ruin“ und „Coherence“ anschließend hat sich das jedoch wohl erübrigt. Fand beide Filme nämlich enttäuschend (Ersterer) bis schlecht (Letzterer), was mir bei der Einordnung von „The Voices“ half – insofern: Danke 🙂
Zu dem Text oben kann ich wenig sagen, außer dass ich weitestgehend die gegensätzliche Meinung vertrete (fand aber auch „Primer“ lediglich okay). Mein Lob aber für den umfangreichen Konsum (und die bislang größtenteils positive Rezeption) des Fantasy Filmfestes!
Vielleicht kann es sein, dass Filme wie „Primer“ und „Coherence“ einfach nicht dein Ding sind? Verständlich ist das ja allemal, schließlich sind die beiden weniger nach dramatischen Grundregeln aufgebaut und fast schon experimentell.
„The Voices“ geht da in eine ganz andere Richtung und ist weitaus konventioneller. Das Besondere an ihm ist halt nur, dass er mehrere Genres perfekt vereint.
Ich bewerte jeden Film grundsätzlich auf seiner eigenen Skala, unabhängig von anderen. Nur weil ich zwei Filme gleichgut einschätze heißt es nicht, dass sie sich ähnlich sind. Von daher kann ich Entwarnung geben und den Film doppelt empfehlen 🙂
Vielen Dank für das Lob!
Stecke mitten in Tag 4 und die Filme scheinen immer besser zu werden 🙂
Ich find die Prämissen in „Primer“ und „Coherence“ interessant – in den Filmen aber nicht gut umgesetzt. Im Fall von „Coherence“ ist mir das Drama zu sehr aufgesetzt, ich selbst bin aber auch grundsätzlich eine rationale Person. Von daher find ich es einfach nicht nachvollziehbar, wenn man mehrere Versionen von sich selbst so behandelt als wären es Fremde. Das Problem der Figuren im Film hätte zum einen verhindert (dann hätte es aber natürlich keinen Film gegeben), zum anderen auch anschließend konfliktfrei aus der Welt geschafft werden können (nach dem Motto: wenn ich ein rationaler Mensch bin und 5 – oder mehr – andere rationale Versionen von mir rumlaufen, können wir uns alle an einen Tisch setzen und rational besprechen, wer jetzt aus welchem Haus und wie alle wieder zum richtigen kommen). Der Film folgt mir da zu sehr den Horror-Konventionen, dass dumme Figuren dumme Entscheidungen treffen.
Ich wollte zudem auch nicht „The Voices“ in dieselbe Schublade wie die andern zwei Filme stecken. Sondern einfach zum Ausdruck bringen, dass du scheinbar Filme magst, die ich nicht mag (und vermutlich vice versa). Von daher zeugte dein Gefallen für alle drei Filme, von denen ich zwei schlecht fand, für mich davon, dass die Wahrscheinlichkeit, dass dies für mich bei „The Voices“ ebenfalls so sein würde, größer ist als umgekehrt.
Bei „Coherence“ bin ich komplett anderer Meinung, aber interessant, darüber zu sprechen!
Ich finde es sogar außerordentlich plausibel, dass Menschen in so einer hypothetischen Situation in Angst und Panik geraten. Du musst auch Bedenken, dass es sich bei den anderen Versionen der Charaktere nicht um identische Versionen/Doppelgänger handelt. Der ganze Gedanke hinter Paralleluniversen ist es ja, dass die kleinsten (oder größten) Dinge sich unterscheiden. Als Beispiel im Film könnte man den trinkenden/nüchternen Schauspieler heranziehen.
Stell dir vor du triffst auf andere mögliche Versionen von dir, die potentiell Serienmörder, Brandstifter, Wahnsinnige etc. sein könnten. Von daher sehe ich die Angst/Paranoia im Film als absolut plausibel an.
Dazu kommt natürlich auch, dass es selbst im Falle einer friedlichen Absprache gar nicht möglich wäre, jeden in sein eigenes Universum zurückzuschicken. Erstens wäre es physikalisch nicht möglich, weil man bei jedem Schritt durch die Schwärze in einem zufälligen Universum landet. Ebenfalls ist es unmöglich, weil einige der Versionen womöglich nicht in ihre eigene Welt zurückwollen (siehe Protagonistin).
Naja, beide Schauspieler trinken ja, man könnte das ganze auch als deterministisch zusammenhängend betrachten. Ich persönlich sehe nicht Unterschiede zwischen den Figuren. Das würde voraussetzen, dass die Paralleluniversum allesamt existent sind, was wiederum dahingehend erstaunlich wäre, dass dann dennoch immer dieselbe Gruppe Freunde zusammensitzt. Wie wahrscheinlich ist das, wenn einer von ihnen Serienmörder wäre und ein anderer Präsident der USA oder sonst was? Sehe es wenn dann eher so, dass in dem Moment, wo sie durch die Schwärze schreiten, eine neue Version/Dublette dazukommt. Das wäre dann aber eine Dublette der Gegenwart, sodass die Persönlichkeiten bis zu dem Zeitpunkt identisch wären. Die Schauspieler kommen ja auch alle auf die Idee, sich gegenseitig zu erpressen, ich sehe hier einen Kausalzusammenhang. Von daher hätte ich selbst nicht die Befürchtung, dass ein andere Ich von mir ein Vergewaltiger wäre. Wir beide sehen den Film einfach anders und für mich fällt er wie ein Kartenhaus in sich zusammen.
Anscheinend liegt das an einer grundverschiedenen Auslegung der Multivers-Theorie und ihrer Logik.
Aber macht ja nichts, trotzdem Danke fürs Gespräch 😉