Wenn man sich hauptsächlich im Internet über neue Filme informiert, stößt man nicht selten auf eine beachtliche Menge an Hass und Gemecker. Schließlich sind Missmut und elitäres Gelaber der Hauptexport des weltweiten Informations-Highways. Anlässlich Luc Bessons neuer Eskapade „Lucy“ erreichten die hitzigen Diskussionen bereits im Vorfeld der Veröffentlichung einen Höhepunkt. Zankapfel war in diesem Fall das Konzept des Actionfilms, das auf dem alten und hartnäckigen Mythos beruht, dass Menschen nur einen geringen Prozentsatz ihrer Gehirnkapazität nutzen und ein Großteil der kognitiven Fähigkeiten ungenutzt bleibt und freigesetzt werden kann.
Genau das ist es, was der Titelfigur in Bessons Film passiert. Die unbescholtene Lucy macht aus irgendeinem Grund Urlaub in Taiwan und gerät über eine Flamme an einen Ring aus asiatischen Drogenhändlern. Gegen ihren Willen wird sie als Schmugglerin rekrutiert und soll einen Beutel voll mit einer neuartigen Droge transportieren, der ihr chirurgisch einverleibt wird. Auf dem Weg zum Flughafen wird das Paket durch eine Reihe von unsanften Tritten in die Bauchgegend aufgerissen und die Chemikalie mit dem unspektakulären Namen CPH4 macht sich in ihrer Blutbahn breit. Ihre genutzte Gehirnkapazität nimmt stetig zu und schon bald kann sie nicht nur Gedanken lesen, sondern auch ihre Umwelt nach Belieben manipulieren.
Genau wie Luc Bessons „Das Fünfte Element“, der sich zu einem beliebten Klassiker entwickelt hat, ist „Lucy“ vor allem ein visueller Film. Die Idee der ungenutzten Hirnkapazität wird nicht als legitimer wissenschaftlicher Ansatz aufgebaut, sondern als Startpunkt einer Science-Fiction-Geschichte, folglich ist es vollkommen hirnrissig, sich über das Thema des Films aufzuregen. Sicherlich versucht Besson nicht, mit Lucys Geschichte einen Meilenstein der Erforschung des menschlichen Hirns beizutragen. Stattdessen nutzt er die Entwicklung von Lucys Fähigkeiten als einen Spielplatz für die Umsetzung seiner kreativen und erfrischenden visuellen Ideen. Und obendrein kann man dem Ansatz von „Lucy“ vielleicht Einiges vorwerfen, aber ein Mangel an Originalität gehört nicht dazu.
Einen großen Teil seiner Genießbarkeit hat „Lucy“ seiner Protagonistin zu verdanken. Selbst in einem Film, der nicht den hohen künstlerischen Anspruch eines „Lost in Translation“ hat, holt Scarlett Johansson das Maximum aus ihrer Rolle heraus und erweist sich zwischen Filmen wie „Under the Skin“, „Her“ und „Captain America: The Winter Soldier“ als eine unglaublich vielseitige und kompetente Schauspielerin, die zu den Besten ihrer Generation zählt. Alleine in „Lucy“ überzeugt sie auf ihrem Weg zur Göttlichkeit sowohl in den vielen physikalischen Momenten als auch in den leider etwas knapp geratenen emotionalen Szenen.
Natürlich ergeben sich auch Probleme in einer Story, in der die Protagonistin die meiste Zeit als schier übermächtiges Wesen durch Raum und Zeit spaziert. Spätestens als Lucys Gehirn die 30%-Marke überschreitet und sie Telekinese meistert, stürzt der Spannungsbogen in den Keller. Auch ihre Gefühlswelt wird zunehmend von einer distanzierten Rationalität übermannt und der anfängliche emotionale Draht zur Titelfigur geht bald flöten. Besonders katastrophal wirken sich diese Minuspunkte allerdings nicht aus, denn „Lucy“ ist kein Film für das Herz oder das Hirn, sondern für Augen und Ohren. Und dank Scarlett Johanssons souveräner Arschtreterei und Luc Bessons unerschöpflicher Schatzkiste voller visueller Spielereien bleibt der Film über seine Lauflänge nichtsdestotrotz sehr kurzweilig.
Wirklich tragisch ist nur der Vergleich mit anderen Filmen des Genres, denn wo vermeintliche Action-Bollwerke wie der kommende „The Expendables 3“ sich für eine amerikanische PG13-Altersfreigabe dem jungen Publikum anbiedern und schlichtweg kastriert wirken, schöpft Luc Besson unerwartet aus dem Vollen. Die Action-Sequenzen sind nicht nur kompetent und aufregend gefilmt, sie zeichnen sich durch ein willkommenes und dieser Tage selten gesehenes Maß an roher Brutalität aus. Wer hätte gedacht, dass der dritte Durchlauf der Action-Veteranen um Stallone und Co. sich vor allem dadurch auszeichnet, dass er von einer 30-jährigen Frau in Grund und Boden gestampft wird?
7/10
Lucy
Sci-Fi, Action
Regie: Luc Besson
Buch: Luc Besson
Darsteller: Scarlett Johansson, Morgan Freeman, Min-Sik Choi, Amr Waked
Kinostart DE: 14.08.2014
Kinostart US: 25.07.2014