So sehr Filme es auch versuchen, meistens scheitern sie daran, mentale Krankheiten und Missstände richtig zu porträtieren. In dem viel gefeierten „Silver Linings Playbook“ nehmen bipoläre Störung und Depression die Form von liebenswerten Charakterschwächen an, die sich vom richtigen Partner im Handumdrehen ausbessern lassen. Gerne werden psychisch gestörte Menschen vor allem in Hollywood als Underdogs dargestellt, um sich der eingeschränkten Weltsicht und der limitierten Kompetenz von Hollywood und seinem Publikum zu beugen. Die wahren, interessanten Auseinandersetzungen mit diesem Thema kann man in den Publikumslieblingen und Cash-Magneten des modernen Kinos kaum erwarten. Doch die Hoffnung ist noch nicht endgültig tot. Im Fall von Dagur Káris „Virgin Mountain“ wird sie sogar verstärkt.
Ein kranker Kopf der etwas anderen Sorte
Natürlich ist der längst erwachsene Fúsi (Gunnar Jónsson) noch Jungfrau. Das liegt nicht etwa daran, dass er noch immer bei seiner Mutter wohnt. Oder daran, dass sein größtes Hobby Modellbau ist. Es liegt auch nicht daran, dass er stark übergewichtig ist. Vielmehr liegt es daran, dass Fúsi eine extrem introvertierte Person ist, die auf der Grenze des Autismus-Spektrums balanciert. Geplagt von den Sticheleien seiner Mitarbeiter, die ihm das Leben sichtlich erschweren, zieht er sich in seinen eigenen Kosmos zurück, in dem Modelleisenbahnen, sein Job am Flughafen und natürlich eine kräftige Portion Slayer regieren. Natürlich verstehen weder seine Mutter noch deren Partner den verschlossenen Mann und drängen ihn dazu, sein Leben endlich in die Hand zu nehmen. Der Impuls, einen Tanzkurs zu besuchen, bringt Fúsi zwar nicht den erhofften Status als Partyhengst, aber immerhin eine neue Bekanntschaft in Form von Sjöfn (Ilmur Kristjánsdóttir). Zwischen den beiden bahnt sich eine Beziehung an, die irgendwo im Bermuda-Dreieck zwischen Romantik, Freundschaft und Therapie angesiedelt ist.
Spätestens wenn die ebenfalls zurückhaltende, aber bedingungslos freundliche und charmante Sjöfn die Bühne betritt, droht „Virgin Mountain“ ins „Silver Linings Playbook“-Territorium abzugleiten, wo psychologische Missstände von süßen Frauen geheilt werden können. Doch die Angst ist vollkommen unbegründet, denn Dagur Kári navigiert die aufkeimende Beziehung zwischen seinen Hauptfiguren mit einer ähnlich stillen Eleganz und Rücksicht wie die Charakterisierung des jungfräulichen Berges. Schon bald muss Fúsi herausfinden, dass seine neue Bekanntschaft ein ähnlich schweres Kreuz zu tragen hat. Hier begibt Kári sich ins Herz von dem, was mentale Krankheit ausmacht. Und nicht nur das, sein Film liefert neben gefühlvollen und sensiblen Momenten auch sinnvolle Ansätze, wie mann (oder frau) mit einem solchen Handicap umgehen kann.
Trotz seines versöhnlichen und stellenweise amüsanten Grundtons bewegt „Virgin Mountain“ sich zu keiner Zeit von dem weg, was er ist. Eine gründliche, empathische Charakterstudie über Menschen am Rand des sozialen Kosmos. Im Gegensatz zu seinen thematischen Geschwistern hat man als Zuschauer am Ende von „Virgin Mountain“ nicht nur das Gefühl, emotional (positiv) gestresst zu sein, man hat wertvolle Lektionen gelernt. Dank des makellosen Spiels seiner Hauptdarsteller und einer perfekten Umsetzung gelingt Dagur Kári eine außergewöhnlich starke Abhandlung über die Themen Depression und Introversion. Punktiert wird diese Leistung von einer authentischen, rauen Emotionalität, die man so zuletzt nur in Filmen wie „Short Term 12“ bewundern konnte.
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10/10
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Fúsi (2015)
Virgin Mountain
Drama, Psychogramm
Regie: Dagur Kári
Buch: Dagur Kári
Darsteller: Gunnar Jónsson, Ilmur Kristjánsdóttir, Sigurjón Kjartansson, Margrét Helga Jóhannsdóttir, Franziska Una Dagsdóttir
Kinostart DE: 12.11.2015
Kinostart US: –
Heimkinostart DE: –
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Klingt interessant, werde ich mir vielleicht auch mal anschauen.