Seit seinem ersten Film „J’ai tué ma mère“ („I killed my mother“) ist der Kanadier Xavier Dolan ein gern gesehener Gast beim Filmfest Hamburg. Damals lieferte Dolan mit zarten 21 Jahren sein Spielfilmdebüt ab. In den sieben vergangenen Jahren hat sich augenscheinlich viel getan. Sein neuer Film „Juste la fin du monde“ („Einfach das Ende der Welt“) ist in vielerlei Hinsicht eine Weiterentwicklung für Dolan. Und das nicht nur auf Grund der Tatsache, dass der Mittzwanziger inzwischen auf die A-Liste der internationalen Schauspieltalente zugreifen kann.Die Rahmenbedingungen seines jüngsten Films unterscheiden sich kaum von denen seiner Vorgänger. Im Mittelpunkt steht der Autor Louis (Gaspard Ulliel), der nach 12 Jahren Karriere nun zu seinen Wurzeln zurückkehrt und seine Familie besucht. Der Grund ist allerdings kein Freudiger, im Gepäck hat er die Nachricht, dass er in Kürze sterben wird. Wie schon in „Mommy“ verspricht Dolan uns ein intimes Porträt der brüchigen emotionalen Mechanismen, die sich hinter der hauchdünnen Fassade einer Familie verstecken.
Schon im Moment von Louis‘ Ankunft macht Dolan unmissverständlich klar, wie zerrüttet die Verhältnisse sind. Eine Mutter mit Scheuklappen (Nathalie Baye), die aus den familiären Konflikten längst ausgestiegen zu sein scheint. Eine verkiffte und trotzige Schwester (Léa Seydoux), deren Leben im Hort der Mutter auf Standby läuft. Ein Nervenbündel von Bruder (Vincent Cassel), der mit seinem Temperament einer brennenden Lunte gleichkommt. Es ist bloß die Frau des Bruders (Marion Cotillard), eine Außenseiterin, mit der Louis harmoniert. Es folgt eine Parade von Altlasten und Frust, die sich in der 12jährigen Abwesenheit des verlorenen Sohns angestaut haben. Vor der Kulisse einer quälenden Hitzewelle lässt Dolan die Körper und Gefühle seiner verschwitzten Figuren zum Siedepunkt kommen.
In bester Tradition einer konfliktreichen Familie bleiben viele Streitpunkte in „Juste la fin du mode“ unausgesprochen. Somit offenbart sich das erste Alleinstellungsmerkmal von Dolans sechstem Film. Während seine anderen Filme ihr Herz auf der Zunge tragen, genügt hier nicht nur ein flüchtiger Blick, um zu erkennen, wo die Brandherde liegen. Die Charaktere, die emotional gewohnt intensiv agieren, offenbaren in den ausgedehnten Dialogszenen nur wenig von dem, was sie tatsächlich ticken lässt. Nur in flüchtiger Mimik und kleinen Momenten kann man in ihre Seele schauen.
Es ist stets interessant, zu sehen, wie der homosexuelle Dolan sich seinen Frauencharakteren annähert. Mit einem starken Fokus auf die Rolle der Mutter und deren emotionaler Bindung zu ihren Kindern hat Dolan bislang ganze Filme gestrickt. Nicht selten ist die Beziehung zwischen einer Mutter und ihrem Kind der Hauptkonflikt seiner Filme, um erneut „Mommy“ zu erwähnen. Hier liegt das Augenmerk jedoch weniger stark auf der Mutter und ihrem Kind, sondern mehr auf dem Geflecht zwischen den Kindern selbst. Die schier unermessliche Bitterkeit, die Vincent Cassel als Antoine im Angesicht seines Bruders präsentiert, steht im Zentrum des Films.
In „Juste la fin du monde“ behandelt Xavier Dolan das Thema Familie. Insbesondere die Verantwortung, die die Mitglieder einer Familie füreinander haben. Ein weitaus komplexeres Sujet, als man es bisher von Dolan erwarten konnte. Passend zur Undurchsichtigkeit seines Themas kommt auch der Film selbst teilweise als sperrig daher und verlangt seinem Zuschauer viel Aufmerksamkeit ab. Trotz der zahlreichen Unterschiede erkennt man deutlich den Pinselstrich des kanadischen Jungsporns. Er setzt sich zusammen aus einer intimen Nähe zu seinen Figuren und Schauspielern, einer emotional geladenen, intensiven und sensiblen Inszenierung und einem tiefen Verständnis für die unüberwindbar scheinenden Probleme, die im Zusammenspiel von uns fehlbaren Menschen stets eine Rolle spielen.