Unter den diesjährigen Nominierten für den Art Cinema Award des CICAE-Verbandes ist auch ein animiertes Werk. „Die Rote Schildkröte“, der Debüt-Langfilm des niederländischen Filmemachers Michael Dudok de Wit feiert während des Hamburger Filmfests seine Deutschlandpremiere und verzaubert sein Publikum mit feinster Animationskunst nach Tradition der japanischen Studio Ghibli-Filme. Nach Sichtung des Films konnten wir uns mit Michael Dudok de Wit für ein Interview treffen, in dem wir ihm allerlei interessante Antworten entlocken.
In der modernen Welt der animierten Spielfilme gibt es zweierlei Ansätze, die verschiedene Methoden anwenden, um zu einem ähnlichen Ziel zu gelangen. Blickt man nach Westen, sieht man die Welt von Pixar, die mit zunehmend aufwändigen Computeranimationen vor allem technisch fortschrittlich sind. Der andere große Spieler des animierten Weltkinos ist natürlich Asien. Für Cineasten ist das japanische Studio Ghibli seit Jahrzehnten ein essentieller Bestandteil. Im Gegensatz zu Pixar legt Ghibli nach wie vor einen hohen Wert auf händisch gezeichnete Bilder, was den Filmen einen unvergleichlichen visuellen Stil verleiht. Auch in der Erzählweise und den gewählten Themen unterscheiden sich Ost und West. Während Pixar sehr im Cartoon-Charakter der westlichen Animation verwurzelt ist, konzentriert Ghibli sich stärker darauf, mit realistischen Elementen und subtiler Magie eine direkte Brücke zum menschlichen Herz zu schlagen.
Kritik
„Die Rote Schildkröte“ findet seine Inspiration und geistige Heimat im Osten. Michael Dudok de Wit erzählt uns die Geschichte eines Mannes, der auf einer Insel strandet. Die Insel bietet ihm alles, was er zum Leben braucht. Sauberes Wasser, frische Früchte und tierische Begleiter, die sein Schaffen aufmerksam und neugierig beobachten. Trotzdem zieht es den Mann in die Ferne. Aus Bambusrohren baut er sich ein Floß und will die Insel verlassen. Seine Versuche werden wiederholt von einer roten Schildkröte vereitelt, die sein Floß zerstört und ihn auf der Insel hält. An Land kann er die Schildkröte endlich konfrontieren. Doch bevor der Mann einen erneuten Fluchtversuch starten kann, verwandelt sich die Schildkröte in eine rot gelockte Frau, mit der er fortan sein Leben auf der Insel verbringt.
Die stilistischen Parallelen zu den Filmen von Studio Ghibli liegen auf der Hand, und sie sind nicht in der Tatsache begründet, dass de Wit ein jahrelanger Freund der japanischen Kunstwerke ist. Sein erster Langfilm ist eine Kooperation mit dem Studio, das er seit Jahren bewundert. In vielerlei Hinsicht ist „Die Rote Schildkröte“ ein Film mit den selben Merkmalen, die Ghiblis Filme so beliebt und wichtig machen. Es ist eine große Metapher für das Leben selbst und eine Abbildung des Gefühlsspektrums, das uns Menschen letztendlich menschlich macht. Zusammengesetzt aus liebevoller, handgemachter Animation, verträumter, orchestraler Musik und einem hohen Maß an Sensibilität liefert de Wit ein zauberhaftes Märchen ab, das sich mühelos neben seinen Vorbildern einreiht.
Interview
Ihr Film wurde von den berühmten japanischen Studio Ghibli ko-produziert. Wie kam es zu dieser Kollaboration?
Wenn sie mir nicht überraschend einen Brief geschrieben hätten, hätte ich womöglich niemals einen Langfilm gemacht. Es ist extrem anstrengend, einen Langfilm zu realisieren. Über viele Jahre habe ich aber meine Freunde dabei beobachtet, wie sie versucht haben, einen Langfilm zu realisieren. Viele haben schließlich aufgegeben.
Dann erhielt ich einen Brief von Ghibli, in dem sie sagten, dass ihnen mein Kurzfilm „Father and Daughter“ gefiel und dass sie, falls ich darüber nachdenke, einen Langfilm in der selben Art zu machen, sie ihn mit mir koproduzieren würden.
Und wenn Studio Ghibli ruft, hat man keine andere Wahl.
Das ist kein Angebot, das man ablehnen kann. (lacht)
Als ein Filmliebhaber, was ist ihre Verbindung zu und Geschichte mit Ghibli?
Ich habe ihre ersten Filme auf Festivals in den frühen 90ern gesehen. Den Namen Studio Ghibli kannte ich zunächst nicht, aber ihre Filme stechen aus der Masse heraus. Ich habe mit einem Freund gesprochen und gesagt „Es gibt diesen japanischen Film, der ist besonders.“ Er sagte, „Klar, das ist Studio Ghibli.“ Dann habe ich alle ihre Filme gesehen und sie geliebt. Sie haben einfach alle richtigen Zutaten. Sie sind sehr unterhaltsam, visuell sehr stark und sie haben sehr reichhaltige Geschichten. Aber es ist mehr. Miyazakis Filme haben eine Art Magie, die sie ausstrahlen. Takatas Filme haben Reife und Sensibilität. Er kann wie kein Anderer Filme mit ruhigen Momenten erzählen, in denen nichts passiert. Und das mit einer Eleganz, die einfach schön ist. Das finde ich extrem inspirierend.
Es ist ähnlich mit den japanischen Realfilmen, wenn man sich Kurosawa oder Ozu ansieht.
Stimmt. Das selbe gilt auch für China oder Korea. Im fernen Osten haben sie diese Dimension, die wir hier einfach nicht haben.
Dies ist ihr erster Langfilm als Regisseur. Wie kann man die Arbeit an so einem Film mit Ihren Kurzfilmen vergleichen?
Mein letzter Kurzfilm war 8 Minuten lang, dieser ist 80 Minuten lang. Es ist aber nicht zehnmal mehr Arbeit, es ist noch viel mehr. Das hat mehrere Gründe. Die Filmindustrie hat sich stark verändert. Das Publikum ist anspruchsvoller geworden, auch die technischen Ansprüche sind gewachsen. Die Qualität des Endprodukts ist entsprechend wichtiger.
Das Verhalten des Publikums ist anders. Man ist schnell bereit, sich einen fünf Minuten langen Film anzusehen, auch wenn er zu philosophisch, experimentell oder anstrengend ist. Ein Pubikum verzeiht Langweiligkeit bei einem Langfilm nicht. Ich habe eine Vorliebe dafür, ruhige Momente zu zeigen, muss aber gleichzeitig aufpassen, dass ich bei meinem Publikum bleibe. Deswegen habe ich mir sehr viel Zeit genommen, um das Drehbuch zu schreiben. Außerdem ist ein Kurzfilm leichter, denn man hat Platz für eine Idee, einen Witz oder einen Effekt. Ein Langfilm ist sehr viel komplexer und reichhaltiger, was mehr Arbeit bedeutet.
Das erfordert sicher auch viel Herzblut und Leidenschaft von Seiten des Regisseurs?
Bei Kurzfilmen ist das auch so, aber es ist nicht so extrem. Daran arbeitet man meistens mit 2-3 Freunden oder alleine und man kann das sprichwörtliche Licht am Ende des Tunnels sehen. An „Die Rote Schildkröte“ habe ich teilweise 100 Stunden pro Woche gearbeitet. Das kann man eine oder zwei Wochen durchhalten, aber nach Monaten ist es sehr schwer. Ich habe das nicht die ganze Zeit so gemacht, meistens habe ich 50 bis 60 Stunden pro Woche gearbeitet.
Als Animationskünstler arbeitet man meistens einen ganzen Tag lang an einer bestimmten Aufgabe. Als Regisseur ist man gespalten, man muss seine Kollegen briefen, Probleme lösen, Meetings einhalten und so weiter. Das war neu für mich, aber ich habe mich schnell in die Aufgabe reingefunden.
Eine Sorge war, dass ich nach Jahren der Arbeit die Lust auf das Projekt verlieren würde, denn bis dato hatte ich maximal zwei Jahre an einem Projekt gearbeitet. Glücklicherweise war ich nicht nur über die gesamte Zeit sehr motiviert, meine Motivation ist sogar gewachsen. Immer wenn mir Entwürfe von neuen Szenen vorgelegt wurden, sagte ich „Wow, das ist wunderbar!“. Das fördert die Motivation sehr.
Nach langer Arbeit ist Ihr Film vor Kurzem fertig gestellt worden. Denken Sie im Moment darüber nach, ein weiteres Projekt dieser Größenordnung anzugehen?
Theoretisch ja. Ich habe bei diesem Film sehr viel und sehr schnell gelernt, also ist die Basis für ein weiteres Projekt jetzt stärker. Ich sage theoretisch, weil ich während dieses Projektes nicht an ein Anderes denken konnte. Ich dachte mir „Stelle erst diesen Film fertig, bevor du an etwas Anderes denkst“. Der Film ist seit April fertig und in der Zwischenzeit arbeite ich immer noch mehr als Vollzeit an der Promotion, also ist meine Arbeit noch immer nicht abgeschlossen. Zunächst brauche ich 1-2 Monate Pause um richtig auszuschlafen. Dann werde ich mich wieder an meinen Schreibtisch setzen und überlegen, ob ich überhaupt einen weiteren Langfilm machen möchte und was der Ansatz wäre.
Wie sehr hat sich die Story des Films zwischen dem ersten Entwurf und dem fertigen Film entwickelt?
Sie hat sich stark verändert. Zu Beginn gab es noch nicht einmal eine Schildkröte. Der Film hieß „Die Rote Ichweißnochnicht“ (lacht). Das grobe Thema des Gestrandeten war von Anfang an klar, auch der Wunsch, die Schönheit der Natur abzubilden. Die Schildkröte kam erst ein paar Monate später dazu, auch das Ende war erst anders. Aber sobald das Storyboard des Films fertig war, haben wir uns sehr eng daran gehalten und wenig geändert.
An diesem Film haben Sie mit Ihrer bisher größten Crew gearbeitet. Wie gestaltet sich der Prozess, wenn so viele kreative Köpfe involviert sind?
Ich bin jemand, der ständig einen Stift oder einen Pinsel in der Hand haben muss. Eigentlich bin ich Illustrator. Ich wusste allerdings, dass ich mich zurückhalten würde, sobald ich den Stil des Films grob festgelegt habe und die Animatoren ihre Arbeit beginnen. Ich hatte bereits viel vorbereitet, also hatte ich auch das Gefühl, meine kreative Schuldigkeit bereits getan zu haben. Zuerst war ich etwas arrogant, ich habe gehofft, dass die Animatoren so gut sein würden, wie ich. Dann fand ich raus, dass sie fast alle besser sind als ich. (lacht)
Und darüber sind Sie froh?
Sehr. Ich habe mich sehr wohl damit gefühlt, die Arbeit in ihre Hände zu geben. Später war ich selber kaum kreativ tätig, aber das wurde durch die Tatsache kompensiert, dass ich jeden Tag tolle Ergebnisse zu sehen bekam.
Es ist außerdem ein fast intimes Erlebnis. Kreative Tätigkeit ist ein persönlicher Prozess, durch den der Künstler geht. Wenn man mit so vielen Personen arbeitet, die diesen Prozess durchlaufen, steht man sich sehr nah. Nach der Arbeit haben wir uns oft auf ein paar Drinks oder in den Wohnungen der Crew getroffen und uns über das Projekt unterhalten. Es waren einige Jahre guter Freundschaft mit meiner Crew, die ich sehr genossen habe.
Landschaften, Tiere und generell Natur spielen eine große Rolle in Ihrem Film. Wie ist ihre persönliche Verbindung zur Natur?
Sie ist sehr stark. Ich bin in der Natur aufgewachsen und habe mich täglich in ihr aufgehalten. Wir hatten sehr viele Tiere, Hasen, Hunde, Enten, Meerschweinchen und so weiter. Ich hatte außerdem ein Aquarium und habe Insekten und Amphibien gesammelt, nachts bin ich alleine durch den Wald gegangen. Ich war also ein Naturkind, kann man sagen.
Vielleicht sieht man es nicht, aber unterbewusst ist das Verhalten von Tieren ein wichtiger Teil meiner Arbeit und es inspiriert mich sehr. Wir teilen viele Verhaltensweise mit Tieren, wie Neugier, Unsicherheit und Zögerlichkeit.
Das passt auch sehr gut zu diesem Film. Ihr Film besteht zu einem großen Teil aus Instinkten, also passt das Zusammenspiel zwischen Mensch und Tier sehr gut.
Richtig. Der Protagonist des Films ist kein Akademiker, er ist bloß ein Mensch mit Emotionen und Bedürfnissen. Selbst wenn er ein Akademiker wäre, wäre es für die Handlung des Films nicht wichtig.
Träume sind ebenfalls ein wichtiges Element Ihres Films. Wie wichtig sind Träume in Ihrem kreativen Prozess und im Kontext des Films?
Ich bin sehr zögerlich mit Träumen im Film. In Träumen ist alles möglich und das finde ich langweilig, denn die Spannung verfliegt. Ich habe sehr darauf geachtet, dass die Träume im Film simpel sind und sich nah an der Handlung orientieren. Im Film merkt man nicht, dass eine Traumsequenz beginnt, aber man merkt sofort, wenn sie beendet ist und der Film wieder in der Realität spielt.
Wie im echten Leben auch..
Genau. Das war mir wichtig. Nicht als Botschaft, sondern als Observation und Gefühl.
Außerdem sind Realität und Traum nicht weit voneinander entfernt. Wir interpretieren und verarbeiten alles, was wir sehen. Insofern ist die Realität unserer Wahrnehmung und unserer Träume sehr nah beieinander. Man könnte sogar sagen, dass unser Leben ein einziger Traum ist. Wie gesagt, das ist keine Botschaft, die ich kommunizieren möchte, es ist für mich im Alltag etwas sehr Natürliches.
Was denken Sie sind für einen Geschichtenerzähler die wichtigsten Eigenschaften?
Oh, das ist sehr interessant… (überlegt)
Man hört es Filmemacher oft sagen und für mich stimmt es definitiv. Wenn ich eine Geschichte entwerfe, ist es in erster Linie eine Geschichte, die ich selber lesen oder sehen möchte. Im Prinzip bin ich der erste Zuschauer meiner Filme und es ist mir wichtig, dass ich sie selber liebe.
Es mag ein Klischee sein, aber unverzichtbar ist natürlich Leidenschaft. Um ein Projekt über neun Jahre zu begleiten, braucht es sehr viel Leidenschaft und Liebe für den Film und die Kunst an sich.
Was mich außerdem begeistert, ist dass eine Geschichte auf mehreren Ebenen funktionieren kann. Man hat eine unterhaltende Qualität und eine „schöne“ Qualität. Damit meine ich nicht schön wie ein bunter Sonnenuntergang, auch ein postapokalyptischer, düsterer Film kann sehr schön sein. Für mich muss ein Film außerdem eine zeitlose Qualität haben. Keine moralische oder philosophische Botschaft, das ist mir zu aggressiv. Ein Film sollte eine Zelebration von etwas sein, das mich selber fasziniert und beschäftigt.
Das Interview wurde geführt und übersetzt von Timo Löhndorf