Es gibt viele Maßstäbe, nach denen man einen Film oder ein Kunstwerk generell als „episch“ bezeichnen kann. Monumentale Gangster-Stories wie „Once upon a time in America“ oder die „Pate“-Trilogie, die Fantasy-Bollwerke der „Herr der Ringe“-Trilogie oder sauteure technologische Innovationen wie James Camerons „Avatar“. Was der amerikanische Regisseur und Indie-Favorit Richard Linklater („School of Rock“, „Before Midnight“) und sein Team mit „Boyhood“ auf die Beine gestellt haben ergründet das Wort „episch“ aber auf eine neue Art und Weise.
Im Zentrum der Geschichte steht der Junge Mason (Ellar Coltrane) und seine Familie, bestehend aus Schwester Samantha (Lorelei Linklater), Mutter Olivia (Patricia Arquette) und dem Vater Mason Sr. (Ethan Hawke), der seine Kinder dank Scheidung nur unregelmäßig zu sehen bekommt.
Zur Zeit gibt es immer mehr Bildungsromane, die den Sprung auf die Leinwand schaffen und dabei große Popularität genießen. Im letzten Jahr stachen Filme wie „The Spectacular Now“ und „The Way, Way Back“ heraus und schafften es, die zahlreichen Hürden des Erwachsenwerdens mit großer Empathie und Authentizität zu erzählen. „Boyhood“ hebt diese Thematik auf eine neue Ebene und besticht durch eine Ambition, wie sie im modernen Kino nur selten zu sehen ist.
Seit Sommer 2002 haben sich Richard Linklater, Crew und Schauspieler jährlich zusammengefunden, um die Kapitel im Leben des Mason Evans Jr. auf Film einzufangen. Das Resultat ist der manchmal leichte, manchmal steinige Weg eines 5-jährigen Jungen durch die High School, die zerrüttete Familie und das Leben im Allgemeinen, bis er schließlich im College ankommt.
Im Januar 2014 war es nach mehr als einem Jahrzehnt der Arbeit soweit und der Film feierte auf dem amerikanischen Sundance Festival Premiere. Weniger später lief er auf der Berlinale, wurde von Jury und Publikum als Favorit gehandelt und verschaffte Richard Linklater den silbernen Bären als besten Regisseur. Ab dem 5. Juni 2014 wird er bundesweit in den Kinos laufen.
Die Laufzeit von knapp drei Stunden dürfte zunächst abschreckend wirken, allerdings bietet die Geschichte weitaus mehr als eine Aneinanderreihung von Bildern, die einen Jungen durch Stimmbruch und erste Pickelbildung begleitet. Um den Protagonisten herum entfaltet sich ein Universum aus Charakteren, die sich im steten Wachstum befinden, Fehler machen und daraus lernen. Szene um Szene vergrößert sich die Perspektive des Films und schneidet dabei gemeingültige Themen wie Familie, Liebe und sogar den Sinn des Lebens an.
Dass der Film über 12 Jahre gedreht wurde, merkt man dabei nur an den alternden Gesichtern der Schauspieler. Linklater springt mit höchster Eleganz durch die Zeitspanne und kreiert einen Rhythmus, der die wichtigsten Lebensstationen seiner Protagonisten trotz der verhältnismäßig kurzen Laufzeit lückenlos ins Gesamtwerk eingliedert. Unterstützt wird dieser Rhythmus durch eine subtile aber wirksame Kulisse der Popkultur, in der von Britney Spears über Harry Potter bis Arcade Fire viele bekannte und beliebte Töne erklingen. Zum Teil wirkt die filmische Reise durch das Texas der 2000er wie eine bescheidene, authentische und intimere Version von „Forrest Gump“.
In der Besetzung gibt es kein schwaches Glied, die vier Hauptfiguren der Familie Evans werden von ihren Akteuren zu jedem Zeitpunkt der 12 Jahre punktgenau verkörpert. Nicht umsonst wurde Richard Linklater auf einem der wichtigsten Filmfestivals weltweit für seine Regieleistung ausgezeichnet.
„Boyhood“ setzt einen neuen und auf absehbare Zeit unerreichbaren Standard für sein Genre. Nicht nur ist er eine einfühlsame und faszinierende Abhandlung über die Menschlichkeit, er ist ebenso ein beeindruckendes Denkmal an die künstlerische Ambition, zu der wir fähig sind.
10/10
Boyhood
Drama
Regie: Richard Linklater
Buch: Richard Linklater
Darsteller: Ellar Coltrane, Patricia Arquette, Ethan Hawke
Kinostart DE: 05.06.2014
Kinostart US: 15.08.2014