Zuhause ist es doch immer noch am schönsten. Das liegt nicht nur daran, dass Hamburg vermutlich die großartigste Stadt der Welt ist, sondern auch am jährlichen Filmfestival, das sich in der gemütlichen Nische zwischen Sommer und Herbst platziert hat. Mit 22 Jahren ist die Veranstaltung zwar um Einiges jünger als die großen europäischen Kollegen (Berlin 64 Jahre, Cannes 68 Jahre, Venedig 71 Jahre), doch was dem Filmfest Hamburg an Tradition fehlt, gleicht es in anderen Bereichen mühelos aus. Nicht nur präsentieren die Filmfestspiele der Hansemetropole einige der berühmtesten und begehrtesten Preisträger des vorangehenden Festivaljahres, sie erfüllen auch ihre selbst auferlegte Rolle als Fernrohr für die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Entwicklungen des Planeten. Wo die Festivals in Berlin oder Cannes von riesigen Filmmärkten und einem Überfluss an Glanz und Glamour bestimmt werden, versteht Hamburg sich als ein wahres Publikumsfestival, das den Film, das Kino und ihre unendlichen Möglichkeiten in den Mittelpunkt stellt.
Die Sektionen und ihre Highlights
Wie es für Filmfestivals typisch ist, werden die Filme (insgesamt sind es 143 Exemplare aus 49 Ländern) in verschiedenen Sektionen gezeigt. Einige davon haben sich in den vergangenen Jahren etabliert und gehören inzwischen fest zum Inventar. Hier die Evergreens des Hamburger Filmfests:
Voilà
Die Filme der Sektion Voilà zeigen das frankophone Kino in all seinen Facetten. Natürlich nicht nur aus Frankreich selbst, sondern auch aus Ländern wie Belgien oder der kanadischen Provinz Québec, die seit Jahren im Fokus des Festivals steht. Star der Sektion ist in diesem Jahr Mommy, das neue Stück des Kanadiers Xavier Dolan, der am 28. September zur Vorstellung seines Films erwartet wird. Doch auch neben Dolans Drama über eine instabile Beziehung zwischen Mutter und Sohn, das in den vergangenen Monaten mit Preisen überhäuft wurde, ist die französische Filmkunst in diesem Jahr exzellent aufgestellt.
In Love at First Fight (Les Combattants) geht es um ein Paar, das sich vor dem Hintergrund eines knochenharten Bootcamps kennen lernt. Von einer weniger schönen Beziehung erzählt der belgische Alleluia, ein Noir-Thriller, der in die düsteren Abgründe von Liebe, Zuneigung und schließlich Besessenheit eintaucht. Um das Herz etwas zu beruhigen und den Bogen zurück nach Kanada zu machen wird You’re Sleeping Nicole (Tu dors Nicole) gezeigt, eine in schwarz-weiß gehaltene Indie-Komödie über die junge Nicole, die auf das Haus ihrer Eltern aufpassen muss.
Vitrina
Ein noch größeres Spektrum bietet die Sektion Vitrina, die die spanischsprachigen Flecken der Weltkugel abdeckt und Exporte aus Brasilien, Argentinien, Mexiko, Spanien und weiteren Nationen in die Elbmetropole einlädt. Mit Spannung erwartet wird (zumindest von mir) in diesem Jahr der argentinische Wild Tales (Relatos Salvajes), eine episodische Komödie, die ersten Berichten zufolge „wunderbar eskalieren“ soll. Etwas realer geht es im spanischen Beautiful Youth (Hermosa Juventud) zu. Ein junges Paar lässt sich aus finanzieller Not heraus auf einen Amateurporno-Dreh ein und muss mit den ungeahnten (aber naheliegenden) Konsequenzen fertig werden.
Nahezu tollkühn ist das Vorhaben der Protagonistin in Voice Over (La voz en off), die sich für ein Jahr von Internet, Handy und Fernsehen lossagen will, um sich zu „reinigen“. Bald muss sie erkennen, dass der konstante Fluss aus Information und Text nicht der einzige Störfaktor des Lebens ist. Als Exot komplettiert Favula die Liste meiner Tips aus der Vitrina-Sektion. Inspiriert von alten Stummfilmpionieren wie Fritz Lang oder George Méliès erzählt der argentinische Regisseur Raúl Perrone die Story einer Außenseiter-Familie, die sich widerwillig mit einem neuen Mitglied herumschlagen muss.
Asia Express
Inzwischen hat sich das asiatische Kino auch auf der Weltbühne einen Namen gemacht. Eine jüngere Tradition des Hamburger Filmfestes ist es, regelmäßig die neuen Filme des Koreaners Kim Ki-duk zu zeigen. Nach „Pieta“ und „Moebius“ wird die Ki-duk-Connection dieses Jahr mit One on One (Il-dae-Il) fortgesetzt. Ebenfalls aus Korea stammt The Avian Kind, ein Märchen, das zwei Suchende in der Wildnis aufeinandertreffen lässt.
Nachdem der Thailänder Nawapol Thamrongrattanarit im letzten Jahr mit „36“ bereits einen originellen und frischen Film ins Rennen geschickt hat, ist er in 2014 wieder dabei. In Mary Is Happy, Mary Is Happy verknüpft er mehrere Hundert Tweets einer ihm völlig unbekannten Person zu einem Spielfilm. Für die ganz Hartgesottenen zeigt das Filmfest Hamburg den philippinischen From What Is Before (Mula sa kung ano ang noon), der beim Filmfestival in Locarno mit der höchsten Ehre, dem goldenen Leoparden ausgezeichnet wurde. Regisseur Lav Diaz entfaltet ein episches Drama über die Geschichte der Philippinen und hat einen Film gemacht, der knapp 6 Stunden dauert.
Eurovisuell
Die Sektion Eurovisuell zeigt die besten und beliebtesten Filme unserer europäischer Nachbarländer. In diesem Jahr gehört dazu unter Anderem der isländische Life in a Fishbowl (Vonarstraeti), der ein Gesellschaftspanorama der Vulkaninsulaner malt. Aus Schweden erreicht uns mit Hallahalla eine gefühlvolle und spaßige Komödie über eine Frau mittleren Alters, die sich nach der Trennung von ihrem Mann neu zurechtfinden muss. Oder eben nicht. Damit es nicht zu leichtgewichtig wird zeigt uns der polnische The Mighty Angel (Pod Mocnym Aniolem) das Leben durch die Augen eines Schriftstellers und starken Trinkers.
Drei Farben Grün
Im Jahre 2011 war Hamburg die Umwelthauptstadt Europas. Diesen Anlass nutzte das norddeutsche Filmfestival, um 2010 die Sektion Drei Farben Grün ins Leben zu rufen, die sich seither großer Beliebtheit erfreut. Unter der Überschrift laufen Dokumentar- und Spielfilme, die sich dem Grün und Blau des Planeten und manchmal natürlich auch dem Raubbau des Menschen an der Natur widmen. Im dänischen Spielfilm The Sunfish (Klumpfisken) geht es beispielsweise um einen Fischer, der an wirtschaftlichen Krisen und verschärften Auflagen zu knabbern hat. Auf der anderen Seite der Kugel, im argentinischen Feuerland, begleitet die Doku Beaverland (Los Castores) ein (Menschen)Paar dabei, wie sie das lokale Ökosystem von den tückischen Bibern erlösen.
16:9
In der 16:9-Sektion müssen die großen und kleinen internationalen Kinoproduktionen das Feld räumen und dem Fernsehen den Vortritt lassen. Gezeigt werden deutsche Filme, die für das Fernsehen produziert wurden und im Rahmen des Festivals oftmals ihre Premiere feiern. Dazu gehören neue Einträge in Reihen wie Bella Block (in diesem Jahr Die Kommissarin und Für immer und immer) oder Tatort (Borowski und der Himmel über Kiel und Die Feigheit des Löwen) und natürlich eigenständige Geschichten (Der Verlust oder Tiefe Wunden).
Michel
Für die Lütten, wie wir Nordlichter zu sagen pflegen, gibt es in Hamburg gleich ein ganzes Festival innerhalb eines Festivals. Das Filmfest für Kinder und Jugendliche geht 2014 bereits in die 12. Runde und zeigt genau wie das Filmfest Hamburg eine Auswahl an nationalen und internationalen Kinofilmen für Nachwuchs-Cineasten. Dabei sind in diesem Jahr unter Anderem Quatsch und die Nasenbärbande und Die Baumhauskönige (Bouwdorp).
Natürlich gibt es auch in 2014 wieder neue Sektionen, die den Rahmen des Filmfestes erweitern. Dazu gehören:
Freihafen
In der (sehr clever betitelten) neuen Sektion Freihafen laufen in diesem Jahr elf Filme, die alle etwas gemeinsam haben. Es handelt sich um internationale Koproduktionen, an denen deutsche Produzenten und Firmen mitgewirkt haben. Dazu gehören auch Titel, die bereits eine lange Reise über die Festivals der Welt hinter sich haben und mit einigen Preisen im Gepäck in Hamburg anreisen. Der türkische Winterschlaf – Kis Uykusu, in dem es um den Ex-Schauspieler Aydin und seine Konflikte mit Familie und Umfeld geht, wurde in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnet. Einen weiteren Preis aus Cannes, nämlich den Hauptpreis der Sektion Un certain regard, konnte der ungarische White God (Fehér Isten) einheimsen. Er erzählt von einer vierbeinigen Revolte gegen die Menschen, die in Ungarn eine Sondersteuer für Mischlingshunde erheben.
Aus den übrigen Filmen der Sektion sticht der israelische Get – Der Prozess der Viviane Amsalem (Gett) hervor, in dem es um die bürokratischen und emotionalen Hürden geht, die einer jüdischen Scheidung im Weg stehen. Ebenfalls spannend ist Jauja, in dem Viggo Mortensen sich ins 19. Jahrhundert versetzt und eine Expedition ins argentinische Patagonien startet. Auf der Suche nach seiner verschwundenen Tochter bricht er zu einem „einsamen, halluzinatorischen Trip tief in feindliches Gebiet“ auf.
Kaleidoskop
In dieser Sektion finden sich weltweite Beiträge aller Nationen und Kontinente wieder. Vom ambitionierten jungen Jazz-Drummer, der von seinem neuen Mentor an die Grenzen seiner physikalischen und emotionalen Leistungen getrieben wird (Whiplash), schwedischen Familien, die sich nach einem schicksalsträchtigen Ski-Urlaub neu definieren müssen (Höhere Gewalt (Force Majeure)) bis hin zum ausgebrannten und nervenkranken Iraner, der als Sinnbild für seine gesamte Generation herhalten muss (Neurasthenia).
In der Kaleidoskop-Reihe finden sich außerdem zwei Stars des diesjährigen Festivals wieder. Zum Einen The Cut, das neue Werk des Hamburger Regisseurs Fatih Akin, der in diesem Jahr mit dem Douglas-Sirk-Preis ausgezeichnet wird. Zum Anderen der britische Pride, der einen umfassenden und (leider) zeitlosen Querschnitt durch Homophobie, Sexualität und Solidarität zieht und nebenher als Eröffnungsfilm des Hamburger Filmfestes gewählt wurde.
DDR Deluxe
Als Kontrast zum aktuellen Blick rund um die Welt bietet das Filmfest Hamburg in diesem Jahr eine Auswahl an Filmen, die sich der deutschen Geschichte widmen. Zum 25-jährigen Jubiläum des Mauerfalls wird eine Reihe an Filmen aus der Deutschen Demokratischen Republik gezeigt, die von Regisseur, Drehbuchautor und ehemaligem DDR-Bürger Andreas Dresen kuratiert wurde. Unter den historischen Dokumenten befinden sich Titel wie Anton der Zauberer, Der Fall Gleiwitz oder Der nackte Mann auf dem Sportplatz.
Serien Spezial
Selbst leidenschaftliche Kinofans wie ich müssen sich eingestehen, dass Fernsehproduktionen (vor allem amerikanische) dem Kino allmählich ebenbürtig werden. Mit der Ausstrahlung von HBOs „True Detective“ Anfang 2014 erreichte die Serienlandschaft einen neuen Höhepunkt und ein Ende der Entwicklung ist noch nicht in Sicht.
Ähnlich wie die Berlinale es im Februar mit „House of Cards“ machte, geht man in Hamburg mit diesem Trend mit und integriert erstmals eine Serie in das Programm. In Kooperation mit Sky werden auf dem Filmfest Hamburg die ersten beiden Folgen der fünften und letzten Staffel von Boardwalk Empire gezeigt.
In diesem Jahr erwartet uns Nordlichter erneut ein gehaltvolles und spannendes Programm mit Beiträgen aus allen Ecken der Erde und allen Genres der Filmwelt. Wie jedes Jahr freue ich mich sehr darauf, die Hamburger Kinosäle für acht Tage zu meinem Zuhause zu machen und mich zusammen mit Projektor, Leinwand und Sitznachbar auf eine Weltreise zu begeben. Selbstverständlich wird der Blog während des Festivals mit den entsprechenden Eindrücken gefüllt.
Für Informationen zu den Kinos, Vorverkaufsstellen, Ticketpreisen, Rahmenveranstaltungen, Preisen und Jurys und natürlich für den Spielplan verweise ich auf die neue Homepage des Filmfestes und auf die sehr lebendige Facebook-Seite. Ansonsten sieht man sich hoffentlich in den Foyers und Kinositzen der Hansestadt!
In diesem Sinne
Hummel, Hummel!