10 Jahre nach einem erfolglosen Versuch, Pier Paolo Pasolinis schmutzigen Exzess komplett zu sichten, holte ich es im Rahmen einer Retrospektive im Berliner Arsenal-Kino endlich nach. Nach der 120 Minuten andauernden filmischen Tortur wird vor allem eines klar. Bei „Salò o le 120 giornate di Sodoma“ handelt es sich vermutlich um den aggressivsten und zornigsten Vernichtungsschlag, den ein respektierter Filmemacher jemals auf Zelluloid gebannt hat. Und dies liegt nicht nur an den expliziten und überaus unangenehmen Bildern und Dialogen. Es gibt wahrscheinlich so viele Wege, diesen Film zu verstehen und zu deuten, wie er Zuschauer hat. In diesem Artikel möchte ich meine Interpretation dieses Meisterwerks aus Exkrement und Perversion anbieten:
Die verbotene Frucht
Im jungen Alter von 14 kochte meine Leidenschaft für das laufende Bild bereits seit vielen Jahren. Und wie es sich für pubertierende Cineasten gehört, ging natürlich besonders vom Tabu-Bereich des Filmspektrums ein großer Reiz aus. Voller Nostalgie erinnere ich mich an die Hungerstreiks und Eskapaden, die ich für Filme wie „Tanz der Teufel“ oder „From Dusk Till Dawn“ organisieren musste. Die höchste Frucht am verbotenen Baum war schon immer Pier Paolo Pasolinis „Die 120 Tage von Sodom“. Durch seine langwierige und komplizierte internationale Zensur-Geschichte, die den Film in Deutschland zeitweise beschlagnahmt sah, ging von „Salò“ eine ganz spezielle, mysteriöse Aura aus.
Wer den Film gesehen/überstanden hat, wird wissen, dass er keineswegs Material für eine junge und „unschuldige“ Person ist. Nicht nur wegen der gnadenlosen Gewalt und Perversion die er zeigt, sondern vor allem auf Grund der sexuellen Motive, die selbst den Horizont einiger erwachsener Zuschauer übersteigen dürfte. So kam es dazu, dass ich zum ersten Mal in meiner jungen Cineasten-Karriere einen Film abbrach. Wie das legendäre Damokles-Schwert hing er seither über meinem Kopf. Die seltene Aufführung einer originalen 35mm-Kopie des Films im Arsenal-Kino in Berlin machte es schließlich unverzichtbar, sich dem kontroversen Stück erneut zu stellen.
Pier Paolo Pasolini – Leben und Werk
Die zahlreichen Wellen, die der Film weltweit schlug, haben dafür gesorgt, dass der Name des italienischen Regisseurs Pier Paolo Pasolini vor allem mit diesem Werk in Verbindung gebracht wird. Um sich allerdings die nötige Klarheit über das letzte Kapitel seines Schaffens zu machen, ist ein wenig Hintergrundwissen über die Person und seine Arbeit unabdingbar.
Schon bevor er seine Arbeit als Regisseur mit „Accattone“ („Accattone – Wer nie sein Brot mit Tränen aß“) in 1961 begann, war der 1922 geborene italienische Intellektuelle eine wichtige kulturelle Figur der europäischen Nachkriegszeit. Bereits mit 7 Jahren fing er das Schreiben an, mit 19 Jahren war Pasolini ein publizierter Dichter und Schriftsteller. Seine Texte setzten sich hauptsächlich mit dem Leben der italienischen Unterschicht auseinander, aus der er stammte. In seinen ersten Filmen über eine Prostituierte („Mamma Roma“) und einen Zuhälter („Accattone“) setzten sich diese Motive fort. Später ergänzten sich die Geschichten des marxistischen, offen homosexuell lebenden Atheisten um religiöse und politische Themen. In Filmen wie „Porcile“ („Der Schweinestall“) setzte er sich kritisch mit der faschistischen Ideologie auseinander. In „Il Vangelo secondo Matteo“ („Das erste Evangelium Matthäus“) inszenierte er Jesus Christus als Marxisten und schenkte dem Kino eine der am höchsten angesehenen Bibelverfilmungen, die sogar vom Vatikan offiziell befürwortet wurde. Ein ständiger Begleiter in den Filmen von Pier Paolo Pasolini ist die Sexualität. In „Teorema“ („Teorema – Geometrie der Liebe“) beispielsweise lässt eine bourgeoise Familie durch einen Zyklus des sexuellen Erwachens laufen und untersucht die befreienden und zerstörerischen Effekte, die es auf die einzelnen Familienmitglieder hat.
Anfang der 70er nahm das Schaffen des Regisseurs eine erste Wende. In seiner „Trilogie des Lebens“ verfilmte er drei wegweisende literarische Werke. Zunächst wandte er sich Giovanni Boccaccios „Il Decamerone“ zu, einem Zyklus aus 100 Novellen, die in der Mitte des 14. Jahrhunderts verfasst wurden und seit jeher als stilbildendes Werk der italienischen Sprache und der Weltliteratur im Allgemeinen gelten. Einen ebenso gravierenden Effekt hatten Geoffrey Chaucers „Canterbury Tales“, die in Pasolinis „I racconti di Canterbury“ („Pasolinis tolldreiste Geschichten“) eine ihrer wenigen Verfilmungen erhielten. Der Dekameron und die Canterbury Tales, die ebenfalls im 14. Jahrhundert entstanden, können in ihrer Wichtigkeit für die italienische und englische Sprache kaum überschätzt werden. Sie hoben die Sprachen, die damals neben dem vorherrschenden Latein als Bauerndialekte galten, eigenhändig auf ein ungeahntes Niveau und trugen Wörter und Ausdrücke bei, die noch heute benutzt werden.
Für den Abschluss seiner Trilogie grub der Regisseur noch tiefer in der Schatzkiste der Weltliteratur. Mit den Geschichten aus „Tausendundeine Nacht“, deren Ursprung vermutlich im 8. Jahrhundert liegt, ging Pasolini ins Morgenland und zur buchstäblichen Wiege der Zivilisation. Sein „Il fiore delle mille e una notte“ („Erotische Geschichten aus 1001 Nacht“) ist ein orientalisches Märchen voller Magie und Faszination für den Zirkus der Menschlichkeit. Ähnliches kann man auch über die ersten beiden Teile der Trilogie sagen. Im Vergleich seiner früheren Werke distanziert sich Pasolinis Trilogie des Lebens größtenteils von politischen Gedanken und konzentriert sich getreu des Titels auf die schönen und weniger schönen Facetten des mittelalterlichen Miteinanders. Natürlich spielen sexuelle Begegnungen auch hier eine große Rolle, inszeniert werden sie aber nicht als Korruption oder Befreiung, sondern als integraler und natürlicher Teil der menschlichen Verfassung. Obwohl die Darstellung der zahlreichen nackten Körper in den frühen 1970er für Furore unter Publikum und Sittenwächtern sorgte, zeichnet sie sich vor allem durch eine Unschuld aus, die beinahe als rein zu beschreiben ist.
Nach Fertigstellung der Trilogie, die auf den Filmfestivals in Cannes und Berlin mit Preisen und Anerkennung bedacht wurde, kehrte Pier Paolo Pasolini mit „Salò o le 120 giornate di Sodoma“ in die Moderne zurück. Doch sein Blick auf diese hatte sich radikal verändert. Kurz nach der Fertigstellung und vor der Premiere des Films wurde der Regisseur von einem jungen Prostituierten unter bis heute nicht ganz klaren Umständen ermordet, was „Salò“ zum letzten Kapitel in der illustren Karriere eines Künstlers macht, der zu den spannendsten und faszinierendsten Intellektuellen des 20. Jahrhunderts gehört.
Das Inferno
„Salò“ markiert den zweiten und tragischerweise finalen Wendepunkt im künstlerischen Schaffen des Pier Paolo Pasolini. Erneut basiert er eine Geschichte auf einer literarischen Vorlage, dieses Mal auf „Die 120 Tage von Sodom“, einem skizzenhaften Text, verfasst vom Marquis de Sade während der Gefangenschaft in der Pariser Bastille im Jahr 1785. Seine Rückkehr ins 20. Jahrhundert platziert Pasolini im Norden Italiens, in die am Gardasee gelegene Stadt Salò. Es ist kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges und Italien steht unter faschistischer Herrschaft. Vier Freidenker fangen je neun junge Männer und Frauen ein und sperren sie in eine Villa am Stadtrand. Was den Opfern in den folgenden 120 Tagen bevorsteht ist ein psychologisches, physikalisches und sexuelles Martyrium, das sich in Abgründe der menschlichen Sexualität wagt, wie man sie auf einer Leinwand selten gesehen hat oder sehen wird.
Mit Pasolinis früheren Werken im Hinterkopf wirkt die Handlung von „Salò“ geradezu primitiv. Hier gibt es keine ausgeklügelten Wechselwirkungen zwischen Charakteren, keine religiöse Symbolik und keinen Klassenkonflikt. Was inszeniert wird ist ein ungebremster Abstieg in eine Hölle aus Wahnsinn und Perversion, dessen Struktur von Dante Alighieris „Divina Commedia“ („Göttliche Komödie“) inspiriert wurde, einem weiteren prägenden Werk der Weltliteratur. Viele Elemente aus Pasolinis früheren Filmen sind immer noch vorhanden, zum Beispiel der politische Aspekt, der durch die vier Faschisten verkörpert wird.
„Salò“ ist ein facettenreiches Werk, aus dem sich zahlreiche Interpretationen und Schlüsse ziehen lassen. Zum Beispiel wohnt dem Film eine vernichtende Kritik an faschistischen Regimes inne. Im letzten Drittel wird auch ein Kommentar über das voyeuristische Verhältnis des Publikums gegenüber Gewalt deutlich. Zum Zweck dieses Artikels möchte ich mich auf das Element konzentrieren, das fest im Zentrum des Films steht: Sexualität.
Im Kontext der Trilogie des Lebens sprach ich von der beinahe makellosen Unschuld, mit der sexuelle Handlungen und Thematiken behandelt wurden. „Salò“ ist das genaue Gegenteil dieser Unschuld. Hier ist Sex ein omnipräsenter Begleiter auf dem Weg durch die Höllenkreise. Während sich Pasolini vor allem in „Il fiore delle mille e una notte“ vorrangig auf den Kontext der gegenseitigen Liebe und Zärtlichkeit besann, durchsetzt er das sexuelle Universum hier mit einer Perversion, die ihresgleichen sucht. Er koppelt die Fleischeslust, die fast ausschließlich aus Sodomie besteht, mit Abarten aus Schmerz und Exkrement und stellt die Akte auf eine Art und Weise dar, die zumindest für normal veranlagte Zuschauer nicht abstoßender sein könnte.
Der Zorn des Intellektuellen
Also warum das Ganze? Um die Motivation hinter „Salò“ zu verstehen, muss man zunächst den kreativen Werdegang von Pier Paolo Pasolini nachvollziehen. Vor der ersten Wende nahm der Regisseur mit seinen Filmen aktiv an Diskussionen Teil und offenbarte seine Weltsicht als eine, die sich von religiösen Verblendungen, politischen Extremen und dem ewigen Klassenkampf erbost und ermüdet zeigte. Mit der Trilogie des Lebens ging Pasolini einen Schritt (und zahlreiche Epochen) zurück und inszenierte seine Geschichtszyklen als eine längst vergessene Essenz der Menschlichkeit, die noch nicht von politischen Ideologien und sozialen Normen verschmutzt wurde. Dass der Filmemacher sich in dieser Gesellschaft wohl fühlt, zeigte er bereits in seinen frühen Filmen, die hauptsächlich von Bettlern und Prostituierten bestimmt wurden. Mit der Flucht ins Mittelalter und darüber hinaus fand er schließlich die perfekte Kulisse für seine Charaktere, die fernab von den zahlreichen sozialen Fesseln des 20. Jahrhunderts existierten.
Was wir in „Salò o le 120 giornate di Sodoma“ zu sehen bekommen, ist in meinen Augen die endgültige, bittere Resignation eines ehemals engagierten und stimmkräftigen Intellektuellen. Die Inszenierung der Täter und Opfer in seinem letzten Film entspringt der selben kritischen Weltsicht, die Pasolini vor allem in Hinblick auf Faschismus bereits offenbart hatte (siehe „Porcile“), hier treibt er sie auf die Spitze. Seine vier Faschos sind impotente und perverse Dämonen, die ihre Opfer aus den niedersten von Trieben durch die Hölle schicken. Wenn sie nicht grade quälen und foltern, beweisen sie ihre kulturelle Inkompetenz mit prätentiösen, selbstgefälligen und leeren Unterhaltungen über ihre philosophischen Helden und Vorbilder. Sie sind nicht nur das pure, destillierte Böse, sondern vor allem Idioten.
Sehr viel gravierender und zerstörerischer ist „Salò“ allerdings, wenn man ihn als Anklage an die Menschlichkeit liest. Die Sexualität, die Pasolini in früheren Filmen bereits als Kernbaustein der menschlichen Kondition etablierte, kehrt er hier um und zeigt ihre Schattenseite. Nicht länger sind es Akte der körperlichen und psychologischen Befreiung und des Genusses, es ist nunmehr eine Kette von immer grausamer werdenden Qualen, die die Opfer über sich ergehen lassen müssen. Durch die Negierung sämtlicher positiver Aspekte des Geschlechtsverkehrs geht Pasolini an die Nieren einer Spezies, von der er sich offensichtlich entfremdet und angeekelt sah.
Die Aufgabe des Künstlers ist es, seinem Publikum ein Fenster in eine andere Welt zu zeigen. In „Salò o le 120 giornate di Sodoma“ geschieht dies mit einer Kraft, die das Medium Film selten gesehen hat oder sehen wird. Pier Paolo Pasolini zeigt uns die Welt durch seine Augen, und der Ausblick könnte nicht hässlicher sein. Es ist eine gnadenlose, wütende und aufrichtige Reflektion einer Gesellschaft, die in den Augen des Reflektierenden jenseits von Erlösung oder Rettung ist. Eine der erschütterndsten und faszinierendsten Visionen, die je auf Film gebannt wurde. Und nicht zuletzt ein zeitloses Meisterwerk, das auch 40 Jahre nach seiner Entstehung stetig an Relevanz gewinnt. Um es mit den Worten des legendären Filmemachers zu sagen: „It’s for everyone. For people like me.“