Lange heiß ersehnt, aus Cannes zurückgezogen, in Venedig uraufgeführt und von der internationalen Filmkritik mit durchwachsenen Urteilen überschüttet. Die Rede ist von „The Cut“, dem neuen Œuvre des Hamburger Regisseurs Fatih Akin, mit dem er seine „Liebe, Tod und Teufel“-Trilogie komplettiert. Im Vorfeld erhitzte der Film vor allem in Akins türkischer Heimat die Gemüter, denn für sein Historienepos wählte der Filmemacher eines der wohl düstersten Kapitel der Geschichte seiner Landsmänner. Thematisiert wird der Völkermord, den die Türken des Osmanischen Reiches während des Ersten Weltkrieges an den Armeniern verübten. Die zum Teil immer noch fehlende Anerkennung des Verbrechens führte dazu, dass dem Regisseur Morddrohungen ins Haus flatterten.

Dass die aufgebrachten türkischen Nationalisten sich vor der Aussprache ihrer Drohungen den Film tatsächlich angesehen haben, ist unwahrscheinlich. Das liegt nicht nur daran, dass es vermutlich nur wenige zur Weltpremiere in Venedig geschafft haben, sondern vor allem daran, dass „The Cut“ nicht die drastische Abhandlung des Kriegsverbrechens liefert, die im Vorfeld erwartet wurde. Die politischen Begebenheiten, die zum Mord an den Armeniern geführt haben, verbannt Fatih Akin in eine einleitende Texttafel und die ersten 20 Minuten seines Films. Wir sind zu Besuch bei Nazaret (Tahar Rahim), der sein Dasein als Schmied im armenischen Dorf Mardin fristet. Der Alltag in Mardin entspricht eher einem Märchen aus 1001 Nacht als der groben Realität des Ersten Weltkrieges. Nazaret geht fleißig seiner Arbeit nach, holt seine klugen Zwillingstöchter aus der Schule ab und genießt dank seiner bildhübschen Frau, die ihn allabendlich in den Schlaf singt, ein nahezu perfektes Familienleben. Alles ist schön.

Weniger schön wird es, als Nazaret zusammen mit den Männern seines Dorfes verschleppt wird um Eisenbahnschienen zu legen. Nach einem Martyrium, das im Tod seiner Nachbarn und seinem knappen Überleben endet, will Nazaret zu seiner Familie zurückkehren. Doch wo einst sein heiles Leben war, ist jetzt nur noch ein Haufen Asche. Der verzweifelte Schmied steht vor dem Nichts, als ihn durch Zufall die Nachricht erreicht, dass seine Zwillinge noch am Leben sind. Er begibt sich auf ihre Spur und damit auf eine Reise, die ihn über den halben Erdball führt, stets einen Schritt hinter seinen inzwischen erwachsenen Töchtern.

Anfangs macht sich in „The Cut“ ein gewisser Frust breit, denn die Nähe zu seinen geerdeten Charakteren, durch die Fatih Akin sich in seiner vorhergehenden Arbeit ausgezeichnet hat, scheint hier verloren. Ersetzt wird sie durch eine beinahe kitschige Darstellung des Familienlebens im frühen 20. Jahrhundert, die den Film auf wackelige Beine stellt. Erst beim buchstäblichen Cut und einer drastischen Massenmord-Szene beweist Akin den nötigen Mut, um ein so delikates Thema mit entsprechend herben Bildern umzusetzen. Leider legt er sowohl diesen Mut als auch seine Thematisierung des Genozids sogleich nieder und fokussiert den Rest des Films auf dessen Protagonisten und seine Reise.

Sobald man sich damit abfindet, dass „The Cut“ den Genozid bestenfalls als Aufhänger und Startschuss für Nazarets Odyssee nutzt, leuchten seine Trümpfe deutlich heller. Akin verlässt seine Komfortzone, erweitert die Perspektive des Films deutlich und liefert einen Film ab, der sich von den anderen Teilen der Trilogie („Auf der anderen Seite“, „Gegen die Wand“) und ihren intimen Geschichten stark unterscheidet. Dies hat neben der Eindimensionalität seiner Charaktere allerdings auch Vorteile. Sobald Nazarets Weltreise beginnt, stürzt Akin sich in ein prächtig ausgestattetes und sehr hübsch anzusehendes historisches Abenteuer. Der Film, der mehrere Kontinente, Jahrzehnte und Genres umspannt, nimmt den Zuschauer mit durch die Wüste, über See, über Land und macht Halt vor wundervollen Kulissen wie dem Havana der 20er Jahre. Dabei gelingen Akin einige Momente wahrer filmischer Magie, wie zum Beispiel dem ersten Erleben einer damals neuen und geheimnisvollen Attraktion, dem Kino.

Sein erster Ausflug in ein Potpourri aus fremden Genres mag nicht ohne Makel sein, nichtsdestotrotz kann Fatih Akin seine vielseitige Filmographie um einen weiteren außergewöhnlichen und guten Film ergänzen. Vom politischen Zündstoff seines Themas verabschiedet er sich zügig, was zunächst für Verwirrung und Enttäuschung sorgt. Doch sobald die epische Reise seines desolaten Schmieds beginnt, entführt „The Cut“ seine Zuschauer auf eines der eindrucksvollsten und besten Historienabenteuer, die man in den letzten Jahren bestaunen konnte.
7,5/10
The Cut
Abenteuer, Drama
Regie: Fatih Akin
Buch: Fatih Akin, Mardik Martin
Darsteller: Tahar Rahim, Simon Abkarian, Makram Khoury, Hindi Zahra, Zein Fakhoury, Dina Fakhoury,
Kinostart DE: 16.10.2014
Kinostart US: ??.??.????