Das zweite Highlight des Münchner Filmfestivals lädt in ein bis dato unerforschtes Filmland ein. „The Silence of the Shepherd“ („Samt al Rai“) behandelt das Schicksal eines irakischen Dorfes vor dem Hintergrund der Golfkriege und deckt dabei eine unbekannte Seite eines sehr bekannten Konflikts auf.
Das erste Opfer des Krieges
Die Golfkriege, insbesondere die mit westlicher Beteiligung, wurden in unzähligen Dokumenten festgehalten und verarbeitet. Wie man es von der amerikanischen Methode der Verarbeitung gewohnt ist, blieben dabei 50% der Geschichten unerzählt. Dieser fehlenden 50%, die vom Schicksal der irakischen Bevölkerung erzählen, nahm sich nun der Regisseur Raad Mushatat zur Brust und zeigt in zwei Zeitebenen ein Wüstendorf und dessen Verfall und Abstieg in Wahnsinn und Paranoia.
Zwischen den 80ern und 90ern dämmert die zweite Runde des Konfliktes. Nicht länger sind es Irak und Iran, die sich bekämpfen, nun sind es die Amerikaner, die dem Irak den Krieg erklären. Natürlich bleiben auch die Bewohner des abgelegenen Dorfes nicht vom Griff der Gewalt verschont. Es ereignet sich ein schreckliches Verbrechen, zurück bleiben ein Augenzeuge in Schockstarre und ein spurlos verschwundenes Mädchen. Die zweite Zeitebene, in die Raad Mushatat sich begibt, spielt sich knapp 15 Jahre später ab. Wieder fällt das Land in einen Krieg, doch während sich in der irakischen Bevölkerung die Déjà-vus einstellen, bleibt das Geheimnis des verschwundenen Mädchens ungelöst und die Familien des Dorfes zerfleischen sich auf der Suche nach Wahrheit und Katharsis.
Das Land, das seit Jahrzehnten von Revolutionen, Kriegen und Machtwechseln geschüttelt wird, hat mit Raad Mushatat einen ausgezeichneten Erzähler hervorgebracht, der das Schicksal seiner Landsmänner mit einer großen Sensibilität auf der Leinwand einzufangen vermag. Noch überraschender ist es, dass der Debütant im ersten Kapitel seiner Filmografie eine außerordentliche Kompetenz an den Tag legt und seine Werkzeuge mit großem Effekt einsetzt. Die Erzählstruktur seines Films übersteigt die simple Form der doppelten Zeitachse und ist auf eine originelle wie clevere Art und Weise zusammengesetzt. Mit Szenen, die wie einzelne Teile eines Mosaiks wirken, spannt er einen reichhaltigen emotionalen Unterbau für seinen Film, der vor allem dazu dient, seinen Zuschauer zu fesseln und zu involvieren.
Man schmeckt eine bittere Ironie bei dem Gedanken, dass der womöglich aufrichtigste und schlicht beste Film über den zweiten und dritten Golfkrieg nicht aus einer der weltweit größten Filmfabriken stammt, sondern stattdessen von einem Regiedebütanten aus einem filmisch unterentwickelten Land. Doch womöglich ist es genau dieses frische Paar Augen, das Raad Mushatat mitbringt, das seinen Film so originell daherkommen lässt. Ein bisher ungesehener Kriegsfilm, der sich nicht auf Uniformen, Flaggen und Gewalt konzentriert, sondern auf die zermürbten, gequälten Seelen dahinter.
9/10
Samt Al Rai (2014)
The Silence of the Shepherd
Krieg, Drama
Regie: Raad Mushatat
Buch: Raad Mushatat
Darsteller: Mahmoud Abu Abbas, Alaa Najem, Shaima Khaleel, Samer Qahtan, Nahar Sadayo
Kinostart DE: –
Kinostart US: –
Heimkinostart DE: –