Selten gibt es Filme zu sehen, die so brandaktuell sind, wie „Mediterranea“. Das Drama nimmt sich der Flüchtlingsthematik an, die seit Monaten in Europa diskutiert wird. Allerdings nicht aus der Perspektive begrenzter Wutbürger oder leerer Politiker, sondern aus der sehr interessanten und aufwühlenden Perspektive der Flüchtlinge. Ein humanistischer Film, der die Debatte mit seiner groben Optik und seiner Schonungslosigkeit um einen wichtigen Punkt bereichert.
Ayiva (Koudous Seihon) ist einer von vielen. Aus Burkina Faso macht er sich auf den Weg nach Italien, um dort nach besseren Aussichten zu suchen und so seine daheimgebliebene Familie zu unterstützen. Die Reise nach Italien, die das erste Drittel von „Mediterranea“ einnimmt, wird als Odyssee inszeniert. Per Bus, Fußmarsch durch die Wüste und schließlich per Boot führt die Route ins Gelobte Land, die nicht von allen Reisenden überlebt wird. In Italien angekommen stößt Ayiva auf ein Ultimatum und somit eine weitere Odyssee. Drei Monate hat er Zeit, um vor Ort eine feste Beschäftigung und somit eine permanente Aufenthaltserlaubnis zu kriegen. Durch diese drei Monate begleitet der Film seinen Protagonisten, dessen anfängliche Hoffnung sich mehr und mehr in Desillusion wandelt.
Die Realität, die Jonas Carpignano uns zeigt, ist doppelt hart. Nicht nur dank der zahlreichen Prüfungen und Enttäuschungen, die die Afrikaner erfahren müssen. Für die Europäer, die Flüchtlinge hauptsächlich als Zahlen und Todesfälle in den täglichen Nachrichten wahrnehmen, offenbart sich ein weiterer Konflikt. In „Mediterranea“ nehmen die gebeutelten Einwanderer keine anonyme, gesichtslose Form an, sondern die Form von Menschen, die aus einer untragbaren Lebenssituation in die Nächste geworfen werden. In einem persönlichen Gespräch mit dem Regisseur wurde mir erzählt, dass es sich bei dem Hauptdarsteller nicht um einen gewöhnlichen Schauspieler handelt, sondern um einen Flüchtling, der die Reise seiner Figur ebenfalls durchlebt hat. Diese Authentizität erfüllt jede Szene des Films, vom tristen Orangenpflücken bis zum tränenreichen Skype-Anruf mit der Tochter.
Zum Ende des Films, das einen gewalttätigen Aufstand der aufgebrachten Einwanderer zeigt, kommen die Teile schließlich zusammen und geben „Mediterranea“ einen unheimlich intensiven Schlusspunkt. Brennende Autos, zerschlagene Scheiben und eine Sekunde der Stille definieren das Herz des Films. Es handelt sich um das tragische Schicksal eines Mannes, das sich nicht auf ihn beschränkt, sondern sich täglich tausendfach ereignet, und das nur zwei Landesgrenzen entfernt.
„Mediterranea“ ist ein aufrichtiges und fundamental humanistisches Porträt eines Konfliktes, der die Stammtische und Rederunden eines ganzen Kontinents beherrscht. Ein wichtiger und über alle Maßen eindrucksvoller Film, der zum Pflichtprogramm für all jene gehören sollte, die ihre Meinung zur Flüchtlingsdebatte beitragen wollen.
9/10
Mediterranea (2015)
(Flüchtlings)Drama, Plädoyer für die Menschheit
Regie: Jonas Carpignano
Buch: Jonas Carpignano
Darsteller: Koudous Seihon, Alassane Sy, Adam Gnegne, Mary Elizabeth Innocent, Pio Amato
Kinostart DE: 15.10.2015
Kinostart US: ??.??.2015
Heimkinostart DE: –
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