Mit dem unvergleichlichen „Dogtooth“ festigte der griechische Regisseur Yorgos Lanthimos seinen Stil der „new greek weirdness“. In „The Lobster“, der 2015 im Wettbewerb in Cannes lief, bekommt der Hellene ein größeres Budget, namhafte Darsteller und viel Spielraum um sich auszutoben. Das Resultat ist wie bereits in „Dogtooth“ eine seltsame Mischung aus verstörender Atmosphäre, bedenklichem Humor und einer Wagenladung aus weirdness.
Wenn Liebe greifbar wird
In der Welt von „The Lobster“ scheint es nur ein Gebot zu geben, dem unbedingt Folge zu leisten ist: Die zwanghafte Zweisamkeit. Der pummelige David (Colin Farrell) hat kaum Zeit, das Ende seiner elf Jahre andauernden Beziehung zu verarbeiten, ehe er abgeholt und in ein ungewöhnliches Hotel verschleppt wird. Dort haben die Gäste/Insassen 45 Tage Zeit, um sich zu verlieben. Bleiben sie erfolglos, werden sie in ein Tier ihrer Wahl verwandelt und im nächstgelegenen Wald ausgesetzt. Die Grundlage dieser bizarren, alternativen Realität liegt auf der Hand. Anders als in der Realität ist Liebe nicht länger ein flüchtiges Phänomen, das gespürt wird. Hier ist es eine Größe, die quantifiziert, erklärt und vor allem überwacht werden kann. Die Paare in Yorgos Lanthimos neuester Dystopie verbringen ihre Leben miteinander weil sie eine gemeinsame Leidenschaft, ähnliche Hobbies oder sogar die gleiche Lieblingsfarbe haben.
„The Lobster“ nimmt diese Regel als Grundlage und untersucht, wie sich die menschliche Zivilisation in einer solchen Welt entwickeln würde. Die Art und Weise, in der ihre Figuren sich verhalten und miteinander umgehen könnte nicht besser zu Lanthimos eigenwilligem Stil passen. Gelächter und herzliche Momente werden vergeblich gesucht, stattdessen geben sich die eingesperrten Singles als ziel- und orientierungslose Fleischklopse in einer Welt, die nur in Zweisamkeit bewältigt werden kann. Anders als in „Dogtooth“, wo der absurde Ton des Films sich durchweg in Unbehagen manifestiert, erlaubt sich „The Lobster“ vor allem zu Anfang das eine oder andere Späßchen. Doch die unterschwellige Grausamkeit der dystopischen Welt ist stets greifbar und entlädt sich schließlich in der zweiten Hälfte des Films. Komplett mit merkwürdig verzerrter Sexualität und Gesprächen, die vor Lakonik und oberflächlicher Irrelevanz überlaufen.
Wie schon in „Dogtooth“ oder jedem anderen philosophischen Science-Fiction-Film dient die absurde Oberfläche in erster Linie dazu, mehrere Kommentare zum Status Quo unserer Gesellschaft abzufeuern. Im Hauptfokus stehen hier die Konsequenzen von fehlender Individualität und die psychologischen Folgen unterdrückter Gefühle. Wenn man „merkwürdiges“ Kino denkt, fällt dem geneigten Cineasten oft zuerst der Name David Lynch ein. Und obwohl man die Struktur der Dialoge und die absurden Figuren gut mit den Werken von Lynch vergleichen kann, handelt es sich bei Lanthimos Stücken um komplett andere Tiere. Der Stil und die Optik, die Lynch oft direkt aus der Traumwelt zu ziehen scheint, wird in „The Lobster“ von einem Universum abgelöst, das vollkommen fremd und zugleich ungemein vertraut wirkt. Das Ganze wirkt in Vollendung wie eine neue, realistische Form des Surrealismus.
Für das ausgewählte Publikum, das mit absurdem Kino etwas anfangen kann, ist „The Lobster“ in jedem Fall eine klare Empfehlung. Die hochkarätigen Schauspieler, allen voran Colin Farrell und Rachel Weisz haben sichtlich Spaß mit der abwechslungsreichen Aufgabe, die ihr Regisseur ihnen stellt. Derweil erschafft Yorgos Lanthimos erneut einen Kosmos aus abseitigem Humor, interessanten Beobachtungen und einem stilistischen Gewitter aus hochemotionaler, orchestraler Musik und blassen, freudlosen Bildern.
9,5/10
The Lobster (2015)
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Regie: Yorgos Lanthimos
Buch: Yorgos Lanthimos, Efthymis Filippou
Darsteller: Colin Farrell, Rachel Weisz, Ben Whishaw, John C. Reilly, Léa Seydoux, Michael Smiley
Kinostart DE: –
Kinostart US: –
Heimkinostart DE: –
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