Mit einem Fokus auf exzentrische Sparten wie Horror, Thriller oder Science Fiction garantiert das Programm eines Genre-Festivals ein Sammelsurium aus kuriosen Kino-Erlebnissen. Doch auch in dieser Gesellschaft gibt es Kandidaten, die hervorstechen. Ein Glanzbeispiel hierfür ist „Crumbs“ vom spanischen Regisseur Miguel Llansó. Die sparsamste Beschreibung des Films wäre vermutlich Folgende: Ein in Spanien, Finnland und Äthiopien produziertes, surrealistisches, post-apokalyptisches Love-Story-Abenteuer. Das Wunderbare an diesem Kleinod ist die Tatsache, dass diese sperrige Umschreibung nicht annähernd ausreicht, um den Kosmos abzustecken. Und trotz all der visuellen und erzählerischen Exzentrik ist „Crumbs“ im Kern eine sehr humanistische Geschichte, die tief ins Mark geht.
Wo soll ich anfangen..
Sobald das Licht im Saal angeht und der Film vorüber ist, kann man kaum glauben, dass nur knapp 70 Minuten vergangen sind. In einer sehr geringen Zeit füllt Miguel Llansó die Leinwand mit einer sorgfältig gestalteten und umfangreichen Welt. Wie so oft hat es eine Apokalypse gegeben. Dieses Mal allerdings nicht durch Klimakatastrophe, Nuklearkrieg oder kosmischen Zufall. Eine lakonisch-tragische Texteinblendung macht zu Beginn des Films klar, was los ist. Im Prinzip hatte die Menschheit einfach keinen Bock mehr und ist vom steten Wachstum zum langsamen Dahinsiechen übergegangen. Das ewige Schlachten und Bekriegen der Leute hat unserer Zivilisation dann den Rest gegeben.
Übrig geblieben sind unter Anderem unser unwahrscheinlicher Held Candy (Daniel Tadesse) und seine Verlobte Birdy (Selam Tesfayie). In der Ruine eines Bowling-Centers, in der die Beiden wohnen, rührt sich etwas. Auch im unheimlichen Raumschiff, das à la „District 9“ im Himmel schwebt, geschehen seltsame Dinge. In der Hoffnung, einen Platz auf dem Raumschiff zu ergattern, begibt Candy sich auf ein Abenteuer. Und schon da stößt unser Protagonist, der sich mehr als scheues Reh und weniger als Held gibt, auf die erste Hürde. Candy ist ein sanftmütiger, schwächlicher, kleiner, deformierter Mann in einer Welt voller Gefahren und Gegner.
Llansó lässt weder visuelle noch akustische Kapazitäten ungenutzt. Immerzu ist er dabei, seine düster-amüsante Vision einer ruinierten Zukunft aufzubauen. Während Candy seinen steinigen Weg beschreitet, tun sich immer größere Parallelen zu den Filmen von Alejandro Jodorowsky auf, die sehr offensichtlich Vorbild für die wilde Erzählebene von „Crumbs“ waren. Ähnlich wie in „El Topo“ ist die Reise des Helden mit einigen absurden Begegnungen gespickt, die man schnell als allegorische und metaphorische Kniffe entlarven kann. Dabei bedient sich Llansó nicht wie Jodorowsky an der religiösen Mythologie unserer Zivilisation. Sein Trick ist die Erschaffung einer brandneuen Mythologie, der unsere Gegenwart zu Grunde liegt.
In der Welt von „Crumbs“ sind billige Plastikschwerter und Ninja-Turtle-Figuren wertvolle Schätze, die hoch gehandelt werden. Religiösen Halt finden die Charaktere unter Anderem in Coca-Cola-Flaschen, die auf einem Schrein stehen. Als eine der greifbarsten Verbindungen zu den Filmen Jodorowskys dient die Erscheinungsform unseres Protagonisten. In „El Topo“ und „The Holy Mountain“ hat Jodo viel mit Schauspielern gearbeitet, die durch Deformation ihres Körpers oder das Fehlen von Gliedmaßen auffallen. Hier steht ein solcher Charakter sogar im Mittelpunkt.
Vieles in „Crumbs“ entzieht sich zunächst dem Verständnis des Zuschauers. Das ist kein Wunder, schließlich wirft der Film ohne Unterbrechung mit höchst surrealen und absurden Szenerien und Charakteren um sich. Auf der anderen Seite ist es allerdings auch kein Problem, denn das Ziel von Miguel Llansós erstem Langfilm ist es offensichtlich, sein Publikum in eine fantastische, ausgefallene Welt zu entführen. Und das gelingt ihm ohne Zweifel. Trotz der großflächigen Verwirrung bekommt man einen guten Sinn für das Leiden unseres Hauptcharakters und seine Reise, physisch wie metaphysisch. Und das ist wohl die größte Leistung dieses wahrlich außergewöhnlichen Films: Inmitten eines sorgfältig orchestrierten Chaos die sehr bescheidene Geschichte eines Mannes zu erzählen, der einfach nur seinen Platz sucht.
9/10
Gesehen in Konstanz auf dem 1. SHIVERS-Festival
Crumbs (2015)
Post-Apokalypse, Drama, Thriller, Existenzialismus
Regie: Miguel Llansó
Buch: Miguel Llansó
Darsteller: Daniel Tadesse, Selam Tesfayie
Kinostart DE: –
Kinostart US: 23.10.2015
Heimkinostart DE: –
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