Ein Marathon, bei dem in acht Tagen 30 bis 40 Filme erlebt werden wollen, ist im besten Fall gut vorbereitet und wird mit ausgeschlafenem und wachem Geist angegangen. Die Realität sieht natürlich eher so aus, dass man sich am Freitagmorgen um kurz nach 10 mit drei Minuten Verspätung in den großen Saal des Hamburger Abaton-Kinos schleicht, hastig in der ersten Reihe Platz nimmt und auf einen möglichst guten Film hofft, der den Tag mit dem nötigen Adrenalinschub anstößt. Wie schon im letzten Jahr hatte ich das Glück (oder Pech?), dass gleich meine erste Vorführung nicht nur die vermutlich beste des Festivals ist, sondern eine der besten des ganzen Jahres.
Mit großer Schande muss ich gestehen, dass ich erst vor einigen Wochen mit „Tom à la ferme“ (Sag nicht, wer du bist) meinen ersten Film des kanadischen Regie-Lieblings Xavier Dolan gesehen habe. Der Film mit der etwas sperrigen Bezeichnung „Queer-Neo-Noir-Thriller“ hat mich nicht vollends aus den Socken gehauen, bewies aber genug inszenatorische Kompetenz, um mich von den Fähigkeiten des 25-jährigen Wunderkinds zu überzeugen und seine Arbeiten auf meinem Radar zu platzieren. Mommy ist bereits Xavier Dolans fünfter Langfilm als Regisseur und der vierte, zu dem er das Drehbuch schrieb. Nach seinem semi-autobiographischen Debüt „J’ai tué ma mère“ (I Killed My Mother) thematisiert er hier erneut die Beziehung zwischen einer Mutter und ihrem Sohn. Zankapfel zwischen den Beiden ist dieses Mal allerdings nicht die Homosexualität des Sprößlings, sondern seine Tendenz zu extrem aggressivem und gewalttätigem Verhalten.
Die alleinerziehende Mutter Diane Després (Anne Dorval) holt ihren Sohn Steve (Antoine-Olivier Pilon) nach einem institutionellen Aufenthalt zurück in ihre Obhut. Zunächst wirkt der 15-Jährige wie ein extrovertiertes, quirliges Kind. Nach einer ersten richtigen Auseinandersetzung wird klar, dass Steve die üblichen Auswüchse eines pubertierenden Jungen weit übersteigt. Mit seinem instabilen Verhalten treibt er Diane zunehmend an den Rand der Verzweiflung und reizt die Grenzen der bedingungslosen Liebe einer Mutter aus. Die einzige Hoffnung ist Nachbarin Kyla (Suzanne Clément), von der Steve seltsam begeistert scheint.
Nicht selten taucht in Diskussionen um Xavier Dolan der scheußliche Begriff „Hipster“ auf. Grund dafür ist sicherlich die Verwirrung, die entsteht, wenn ein dermaßen junger Filmemacher sich den großen Themen der menschlichen Kondition annimmt. Dass Dolan mit der unerträglich oberflächlichen Hipster-Kultur nichts am Hut hat, wird bereits nach wenigen Momenten deutlich. Er beweist nicht nur in seiner außergewöhnlichen Inszenierung, sondern auch in seinem sensiblen Drehbuch ein perfektes Gespür für die Ecken und Kanten seiner Charaktere. Dies überträgt er eindrucksvoll auf die Arbeit mit seinen Schauspielern, die teilweise doppelt so alt sind wie er selber. Seine Diane ist eine gequälte Mutter, die nach dem Tod des Ehemanns mit einem mehr als schwierigen Kind zurückgelassen wurde, ihr eigenes Leben unter der Last ihres Sohnes zusammenbrechen sieht und stets im Zentrum einer unmöglichen Entscheidung steht. Ebenso nuanciert sind die anderen beiden Hauptfiguren von Mommy. Antoine-Olivier Pilon verkörpert den problematischen Jungen nicht als unerbittlichen Tyrann und Antagonisten, sondern als eine Naturgewalt aus wilder Liebe, unbändiger Gewalt und unwiderstehlichem Charisma. Die fehlende Zutat ist Nachbarin und Lehrerin Kyla, die ihrerseits vom Leben schwer gezeichnet ist.
Xavier Dolan schreibt und inszeniert seine Charaktere mit einer Sorgfalt und Sensibilität, von der selbst manche Veteranen des Geschichtenerzählens nur träumen können. Über knapp zweieinhalb Stunden entfaltet er ein Dreieck aus Liebe, Zorn, Verständnis und Verzweiflung, das nicht für eine einzige Sekunde langweilig ist. Dies liegt vor allem an einer Inszenierung, die das nahezu makellose Drehbuch abrundet. Während die Spielereien mit dem Bildformat in „Tom à la ferme“ noch leicht überflüssig daherkamen, setzt Dolan sie hier mit großem Effekt ein und macht die dramatische Geschichte seines Trios zu einem visuell unvergesslichen Erlebnis. Dessen Krönung ist eine Traumsequenz, die man nur als einen perfekten, ekstatischen Rausch aus Bildern und Tönen bezeichnen kann.
Die Beziehung zwischen Diane und Steve mag das gelegentliche ödipale Motiv bieten, was vor allem der stark sexualisierten Figur der Mutter geschuldet ist. Aber der eigentliche Hauptgrund, warum erneut eine Mutter-Sohn-Beziehung im Zentrum von Dolans Werk steht, ist ein anderer. Er etabliert sie als ultimative, bedingungslose Liebe und stellt diese Liebe auf den Prüfstand, indem er seine Figuren an den äußeren Rand des emotional Erträglichen treibt. Mommy ist ein perfekt geschriebener, inszenierter und gespielter Film, der die Fähigkeiten des kanadischen Jungspunds ein für alle Mal unter Beweis stellt. Beeindruckender und tiefgründiger kann menschliches Drama nicht sein.
9,5/10
Mommy
Drama
Regie: Xavier Dolan
Buch: Xavier Dolan
Darsteller: Anne Dorval, Antoine-Olivier Pilon, Suzanne Clément
Kinostart DE: 13.11.2014
Kinostart US: 23.01.2015
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