Im vergangenen Jahr gewann Nuri Bilge Ceylans „Winterschlaf“ („Kış Uykusu“) in Cannes die Goldene Palme, eine der höchsten Würden, die ein Film erreichen kann. Zur Erscheinung auf dem Heimkinomarkt hat Timo das türkische Meisterwerk und seine deutsche Heimkino-Präsentation in Augenschein genommen.
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Hoch oben im Elfenbeinturm
Selbst für den leidenschaftlichsten Filmkonsumenten kann ein neuntägiges Festival sehr strapaziös sein. Umso bemerkenswerter ist es, wenn ein Film es schafft, den übermüdeten und geistig umnebelten Rezipienten vom Rand der Bewusstlosigkeit abzuholen und über einen längeren Zeitraum zu fesseln. Während des Filmfestes in Hamburg 2014 ist dieser Trick zwei Filmen gelungen. Zum Einen „Whiplash“, der während seiner Schnitt-Stakkatos sogar ein Blinzeln unmöglich machte. Zum Anderen „Winterschlaf“ („Kış Uykusu“), der sich am anderen Ende des kinematischen Spektrums bewegt und seinem Publikum geschlagene 196 Minuten Aufmerksamkeit abfordert. Doch spätestens beim Genuss der ersten ausgedehnten Dialogszene, die sogar über einen eigenen Spannungsbogen verfügt, fließt die zerebrale Charakterstudie mit der Ruhe und Schönheit eines Flusses und inspiriert dabei eine ähnliche Faszination.
Auf dem Zenit seines kreativen Schaffens stand Aydin (Haluk Bilginer) auf der Theaterbühne. Heute verwaltet der Schauspieler, der mit Stolz behauptet, nie in einer Fernsehshow gespielt zu haben, das Erbe seines Vaters. Ein Erbe, das ihn nicht nur zu einem wohlhabenden Mann in einer armen Gegend macht, sondern auch zum ansässigen Hauptvermieter. Seine Tage verbringt der ergraute Intellektuelle in seinem Hotel in den Hügeln Kappadokiens, wo er sich hauptsächlich mit den Besuchern auseinandersetzt. Doch der Winter naht, die letzten Touristen verabschieden sich und die Beziehungen innerhalb des Hotels erhitzen sich trotz des kalten Wetters. Aus den Konfrontationen mit seiner jungen, überaus schönen Frau Nihal (Melisa Sözen) und seiner Schwester Necla (Demet Akbag) ergeben sich lange, komplexe Diskussionen über Wohltätigkeit, Kultur, Religion und die Lage der Nation.
Lange bevor sich die ersten Dialoge daran machen, die Gedankenwelten und Hintergründe der drei Hauptakteure abzustecken, zeigt Regisseur Nuri Bilge Ceylan, was ihn zum womöglich besten aktiven Filmemacher der Türkei macht. Die Kameraarbeit, das Setdesign, die Beleuchtung und nicht zuletzt das perfekt inszenierte Kappadokien verweben sich zu einem Gesamtbild, das „Winterschlaf“ zu einem der visuell beeindruckendsten Filme der letzten Jahre werden lässt.
Auf einer Handlungsebene befasst „Winterschlaf“ sich mit einer ganzen Reihe von komplexen Themen. Ein überaus ernsthafter Film, der sich mit Hilfe seiner hochintelligenten Figuren auf philosophische Art und Weise vielen geistlichen und soziologischen Fragen stellt. Im Kern steht mit Aydin ein Mann, der neben den Fehlern und Fehltritten seiner Vergangenheit auch mit seiner zweifelhaften Einstellung gegenüber seinen Mitmenschen konfrontiert wird. Aydins Welt ist eine Einsame, die einen begrenzten Trost einzig in der Isolation findet. Eine Tatsache, unter der der kultivierte Mann deutlich leidet.
In einem Anfall von spontaner rhetorischer Orientierungslosigkeit bezeichnete die Süddeutsche Zeitung den Film als eine Überarbeitung von Kubricks „The Shining“ durch Ingmar Bergman. Eine Aussage, die augenscheinlich auf dem bloßen Überfliegen der Zusammenfassung basiert. Tatsächlich ist „Winterschlaf“ eine brillante Charakterstudie, die den Nerv all jener trifft, die sich von der modernen Gesellschaft abgestoßen und gar angewidert fühlen. Nuri Bilge Ceylan liefert wahrhaft großes Kino ab, das sich mit betörenden Bildern, makellosem Schauspiel und einem ausgezeichneten Drehbuch zu den Glanzstunden des Weltkinos gesellt. Ein Meisterwerk, das trotz seiner epischen Laufzeit keine Sekunde zu lang geraten ist und vollkommen zurecht den Hauptpreis des wichtigsten Filmfestivals der Welt gewonnen hat.
10/10
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Weltkino spendiert „Winterschlaf“ eine Heimkino-Auswertung, die dem Status des Films zweifelsohne gerecht wird, angefangen mit dem unerlässlichen Wendecover. Die technische Präsentation lässt keine Wünsche offen, die in 4K gedrehten und in 2,35:1 gezeigten Bilder erstrahlen auf den heimischen Bildschirmen/Leinwänden in der vollen Pracht aus Licht und Farbe, die vom Filmemacher beabsichtigt wurde.
Verfügbare Tonspuren kommen in Deutsch und Türkisch (jeweils in verlustfreiem DTS-HD-Format) daher. Zusätzlich werden Untertitel in Deutsch und Deutsch für Hörgeschädigte angeboten. Der Tonmix spielt sich erwartungsgemäß größtenteils im Frontbereich ab und überzeugt in den ausgedehnten Dialogszenen durch klar verständliche Stimmen. Bei Aydins gelegentlichen Ausflügen ins Freie gesellen sich rieselnder Schnee, heulender Wind und sonstige Umgebungsgeräusche zur Tonmischung.
An Bonusmaterial liefert die Scheibe folgende Auswahl:
- Kurzes Featurette, in dem Regisseur Nuri Bilge Ceylan und Kameramann Gökhan Tiryaki auf die genutzten Kameras und die Bildgestaltung des Films eingehen
- Deutscher Trailer
- Hörfilmfassung des Films für Sichtbehinderte
- Trailershow, in der die anderen Filme des Weltkino-Programms vorgestellt werden
- Ein 140-minütiges Making Of von „Winterschlaf“, das umfangreiche Blicke hinter die Kulissen gewährt
Kernstück der Sonderausstattung ist das Making Of, das eine ähnlich epische Länge wie der Hauptfilm aufweist. Bestehen tut es hauptsächlich aus Aufnahmen vom Set. Die Konstruktion verschiedener Schlüsselszenen des Films wird gezeigt, im Anschluss folgt jeweils ein kurzer Ausschnitt der fertigen Szene. Gewürzt werden die Aufnahmen mit kurzen Stimmen der Schauspieler, die sich meistens auf die Arbeit mit Ceylan konzentrieren. Für ambitionierte Filmemacher und alle, die sich für Nuri Bilge Ceylans Methoden interessieren, sind diese 140 Minuten eine Schatztruhe. Der Regisseur erweist sich vor allem gegenüber seinen Schauspielern als extrem involviert, sorgfältig und minutiös, aber auch als sehr diszipliniert. Auch einige leichte Momente werden gezeigt, die in einem interessanten Kontrast zum ernsthaften Ton des Films stehen.
Weltkino hat ein feines Paket geschnürt, das sich Fans des anspruchsvollen Kinos gerne ins Regal stellen werden. Mit einer perfekten technischen Präsentation und einer kleinen, aber sehr feinen Auswahl an Bonusmaterial erfährt „Winterschlaf“ eine deutsche Veröffentlichung, die dem hohen Anspruch des Films gerecht wird.
Kış Uykusu (2014)
Winterschlaf
Drama, Charakterstudie, Malerisches Landschaftsporträt
Regie: Nuri Bilge Ceylan
Buch: Nuri Bilge Ceylan, Ebru Ceylan
Darsteller: Haluk Bilginer, Melisa Sözen, Demet Akbag, Ayberk Pekcan, Serhat Mustafa Kiliç
Kinostart DE: 11.12.2014
Kinostart US: 19.12.2014
Heimkinostart DE: 26.06.2015
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